(Rom) Ein Jahr nach der Wahl von Bergoglio zum „Bischof von Rom“ ist man perplex, wenn man in Rom in einer Trattoria sitzt und den „Corriere della Sera“ aufschlägt und darin liest, wie die Tageszeitung der Banken und der Finanz dem „Papst der Armen“ zujubelt, der gegen den „reichen Norden“ donnert, dem er mehrere Male in diesem Jahr ‚Schande‘ zugerufen und gegen den er Anklage erhoben hat. Es beschleicht einen das Gefühl, an der Nase herumgeführt zu werden.
Welches Spiel wird hier gespielt? Und was soll man von der Tageszeitung La Stampa und ihrem katholischen Anhang Vatican Insider halten? Die Turiner Tageszeitung des italienischen Autokonzerns pflegt intensiv die „Franziskusmanie“, die Bergoglio eigentlich mißbilligt, wie er vor wenigen Tagen dem erwähnten „Corriere della Sera“ anvertraute. Im Schatten der Peterskuppel bleibe ich bei italienischen Beispielen und bitte die geschätzte Leserschaft, sich analoge Beispiele zu Hause, nördlich der Alpen einfach mitzudenken.
Die Tageszeitung des Fiat-Konzerns geht in ihrer Armutsoption sogar soweit, die Fanfaren für Gustavo Gutierrez zu blasen, der im Vatikan mit nur mehr nuancierten Vorbehalten „rehabilitiert“ wurde. Gutierrez ist der „Vater“ der „Befreiungstheologie“, die Christentum und Marxismus in einen Topf warf, fest schüttelte und als verkappten Kathokommunismus ausschüttete. Eine zwielichtige Bewegung, die das Leid der Menschen mißbrauchte, um sie in die Irre zu führen. Mit gutem Grund wurde sie daher von Johannes Paul II. und Joseph Kardinal Ratzinger versenkt.
Man riecht Betrug
Man riecht Betrug, wenn die Tageszeitungen der internationalen Großkonzerne und Finanzzentren ein Hosianna auf die Befreiungstheologie anstimmen. Noch mehr aber, wenn diese vom Vatikan rehabilitiert wird. Gerade in diesen Tagen erklärte Joseph Ratzinger in einem Gesprächsbuch über Johannes Paul II.:
„Die erste große Herausforderung, mit der wir konfrontiert wurden, war die Befreiungstheologie, die sich in Lateinamerika ausbreitete. Sowohl in Europa als auch in Nordamerika war die Meinung verbreitet, es gehe dabei um eine Unterstützung der Armen, weshalb dem Anliegen auf jeden Fall zuzustimmen sei. Das war ein Irrtum. Der christliche Glauben wurde als Motor für diese revolutionäre Bewegung mißbraucht, den sie in eine politische Kraft umwandelte (…). Einer solchen Verfälschung des christlichen Glaubens galt es sich entschieden zu widersetzen, auch und gerade aus Liebe zu den Armen und für den Dienst an ihnen.“
Vor kurzem gab ein führender Vertreter der Befreiungstheologie, Clodovis Boff, im Rückblick Ratzinger Recht:
„Er verteidigte den wirklichen Ausgangspunkt der Befreiungstheologie, den Einsatz für die Armen wegen des Glauben. Gleichzeitig kritisierte er den marxistischen Einfluß. Die Kirche kann nicht über die Grundsätze des Glaubens verhandeln… Wir sind einem Glauben verbunden und wenn jemand einen anderen Glauben bekennt, schließt er sich selbst aus der Kirche aus. Im hegemonischen Diskurs der Befreiungstheologie spürte ich, daß der Glauben an Christus nur im Hintergrund auftauchte. Das ‚anonyme Christentum‘ von Karl Rahner war eine große Ausrede, um Christus, das Gebet, die Sakramente und die Mission zu vernachlässigen und sich allein auf die Veränderung sozialer Strukturen zu konzentrieren.
Heute aber rehabilitiert der Vatikan die Befreiungstheologie und man staunt. Und der Bruch mit dem polnischen Papst Johannes Paul II. und dem deutschen Papst Benedikt XVI. betrifft noch weit mehr.
Abschaffung der Sünde?
Am 29. Dezember lautete der Titel des Leitartikels von Eugenio Scalfari in seiner „La Repubblica“: „Die Revolution von Franziskus: Er hat die Sünde abgeschafft“.
Tatsächlich wäre das, von Scalfari ersehnt (und ebenso von den weltlichen Mächten, den antikatholischen Logen und Lobbys), die größte aller Revolutionen und würde die Abschaffung der Kirche selbst bedeuten. Jesus predigte und praktizierte die Vergebung der Sünde, weil er um die Realität und Dramatik der Sünde wußte. Die Abschaffung der Sünde ist das genaue Gegenteil davon. Sie würde sogar das Opfer am Kreuz sinnlos und letztlich sogar lächerlich machen.
Daher erschien die Behauptung des „La Repubblica“-Gründers und radikalliberalen Wortführers in beschürzter Tradition wie ein Scherz, der seinem sprichwörtlichen theologischen Dilettantismus zuzuschreiben ist. Die katholischen Medien überschütteten ihn mit sarkastischen Kommentaren.
Hatte Scalfari doch recht?
Heute aber wird man zugeben müssen, daß Scalfari zum Teil recht hatte. Der Satz, „Wer bin ich, um zu urteilen?“ wiegt schwer, wird aber noch ausgeglichen durch die Anmerkung, daß zur Homosexualität gilt, was im Katechismus steht. Darum: Nicht was den Papst betrifft, hat Sclafari recht, weil dieser sich noch nicht zur Frage geäußert hat. Aber was Kardinal Kasper betrifft, den Autor der explosiven Rede vor dem Konsistorium zu den wiederverheiratet Geschiedenen. Einer Rede, die vom Papst ausdrücklich von diesem Kardinal gewollt wurde.
Kasper vertritt, wenn auch manche nun staunen werden, weil sie bei der Ordnung ihrer eigenen Schubladen etwas durcheinander kommen, die innerkirchliche Linke Martinis, des ehemaligen Erzbischofs von Mailand und Jesuiten, wie auch Bergoglio einer ist. Eine Linke, die den protestantischen Kirchen des Nordens nacheifert, und im Klartext vor der Welt die Hosen herunterlassen will. Tatsächlich existieren die protestantischen Kirchen nur mehr auf dem Papier und dank eines staatlichen Finanzierungssystems. In Wirklichkeit haben sie längst Selbstmord begangen. Es sind nur mehr die Staaten und die Katholische Kirche – was nur Martinianer verstehen werden -, die sie noch am „Leben“ halten, durch protokollarische Anerkennung und Dialog- und Gesprächsgremien.
Aus diesem Grund stürzt die Rede Kaspers in der Praxis radikal um, was Jesus (Mt 5,32 und Mt 19,9) und die Kirche immer gelehrt haben.
Mit dem Zugang der wiederverheiratet Geschiedenen zu den Sakramenten (der das gesamte Lehramt, vor allem auch jenes von Johannes Paul II. und Benedikt XVI.) kippt, wird faktisch die Abschaffung der Sünde vollzogen.
Was ist das für ein „Feldlazarett“, das Kranken einredet, gesund zu sein?
Was für ein „Feldlazarett“ ist das aber, in dem die Kranken und Verletzten nicht behandelt und geheilt werden, sondern in dem ihnen vorgegaukelt wird, daß sie gesund sind? So wird uns armen Sündern nicht geholfen. So krepieren wir Sünder nämlich wirklich. Es ist, als würde das Gesundheitsministerium alle Kranken per Gesetz für gesund erklären. Was für eine Kosteneinsparung für Staat und Krankenkassen und was für ein Betrug an den Menschen.
Tatsächlich impliziert die Sichtweise, zu der Kasper und Konsorten die Kirche drängen wollen, die Nutzlosigkeit des Bußsakraments und seiner Abschaffung. Warum wird die Beichte kaum genützt? Eine einfache Frage, auf die man in vielen Kirchenkreise die Antwort peinlich vermeidet. Weil das Sündenbewußtsein der Katholiken durch Schonkost bereits arg gelitten hat. Schonkost, die ihnen von Klerikern und Theologen verabreicht wurde. Die Abschaffung der Sünde ist der nächste „konsequente“ Schritt.
Denn warum sollte man sich auf die wiederverheiratet Geschiedenen beschränken? Wäre das nicht eine ungerechte Lex ad personam, wie mir gerade ein freundlicher italienischer Gesprächspartner in anderem Zusammenhang erklärt hat? Und was ist mit denen, die einfach wild zusammenleben? Warum sollten die beichten müssen, um die Heilige Kommunion empfangen zu können? Und die verheirateten Männer und Frauen, die einen Seitensprung begangen haben? Ehebrecher? Was für ein häßliches Wort.
Entweder Kasper oder Jesus – Beides geht nicht
Die Beispiele lassen sich fortsetzen. Die Anwendungsmöglichkeiten des abschaffenden Kasper-Prinzips sind genial grenzenlos. Allen wird auf dem Amtsweg vergeben? Kasper sagt es: „Jede Sünde kann vergeben werden“. Er unterschlägt allerdings, daß es dazu der Reue und der Buße bedarf.
Im Gegensatz zu Kasper, sagte Jesus aber: „Jede Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben werden, aber die Lästerung gegen den Geist wird nicht vergeben. Auch dem, der etwas gegen den Menschensohn sagt, wird vergeben werden; wer aber etwas gegen den Heiligen Geist sagt, dem wird nicht vergeben, weder in dieser noch in der zukünftigen Welt (Mt 12,31f).
Was aber ist diese Sünde, die nicht vergeben wird? Im konkreten Fall: Die Vermessenheit, zu meinen oder zu hoffen, daß man ohne Verdienste gerettet wird (praesumptio), die Zurückweisung der erkannten Wahrheit (impugnatio veritatis agnitae), das verstockte Verharren in der Sünde (obstinatio) und die mangelnde Reue bis zum Tod (impoenitentia). Ist es aber nicht genau das, wozu Kasper soeben mit einem breiten Lächeln im Gesicht aufgefordert hat?
Abschaffung der Hölle
Bei genauem Hinsehen beläßt es Kasper nicht, die Sünde abzuschaffen (und gleichzeitig die Beichte). Er schafft auch die Hölle ab. Er hat es in einem unbeachtet gebliebenen Satz getan und widerspricht auch damit diametral dem, was Jesus und die Kirche immer gelehrt haben. Der Purpurtäger sagt: „Es ist nicht vorstellbar, daß ein Mensch in ein schwarzes Loch fallen könnte, aus dem Gott ihn nicht mehr herausholen kann“. Was für eine Irrlehre. Dieses „schwarze Loch“ gibt es und wie. Jesus spricht mit klaren Worten davon: es ist die Hölle. Wir können entscheiden, ob wir dorthin gehen wollen, mit allen Ausreden dieser Welt. Gott kann uns, aus Respekt vor unserer Freiheit, nicht gegen unseren Willen retten.
Es ist sehr gefährlich, nicht an die Existenz der Hölle zu glauben. Es erinnert an die Gauner und Verbrecher, die vor jeder neuen Straftat fest daran glauben wollen, daß sie nicht erwischt werden. Was den Gaunern blüht, ist aber nichts im Vergleich zur ewigen Verdammnis. Die heilige Faustyna Kowalska, die in Sachen Barmherzigkeit wesentlich kompetenter war als Kasper, berichtet in ihrem Tagebuch, wie sie auf mystische Weise das Reich Satans schauen konnte und entdeckte dabei, daß „der Großteil der Seelen, die sich dort befinden, Seelen sind, die nicht an die Existenz der Hölle glaubten“.
Welche Verantwortung laden Theologen auf sich, die den Menschen vorgaukeln, es gäbe keine Hölle.
Die Jesuiten und Pascals Vorwurf
In der Kirchengeschichte der Neuzeit waren es die Jesuiten, die vom großen Blaise Pascal in der Mitte des 17. Jahrhunderts beschuldigt wurden, in einem dialektischen Spiel die Sünde abgeschafft zu haben und zwar mit der Ausrede, dem Sünder zu vergeben. Es lohnt sich, die Anklage Pascals nachzulesen in einer Zeit, in der ein Jesuit auf dem Papstthron sitzt. In unserer Zeit sind solche Ideen nämlich wieder in Mode gekommen.
Daran erinnerte der damalige Kardinal Ratzinger in seiner berühmten Rede vom 1. September 1990 in Rimini:
„Deswegen kann man sagen, daß die heutige Moraldiskussion dazu neigt, den Menschen von der Schuld zu befreien, indem alles so zurechtgeschneidert wird, daß die Bedingungen des Sündigens für den Einzelnen eigentlich nie eintreten können. Das bissige Wort Pascals kommt einem in den Sinn: Ecce patres, qui tollent peccata mundi! (Seht, die Väter, die die Sünde der Welt hinwegnehmen). Nach diesen ‚Moralisten“ gibt es einfach keine Schuld mehr. Natürlich ist diese Art, die Welt von der Schuld zu befreien, allzu billig. Im Stillen wissen die so befreiten Menschen sehr genau, daß das alles nicht wahr ist, daß es Sünde gibt, daß sie selbst Sünder sind und daß es eine reale Art ihrer Überwindung geben muß.“
Bereits in einem früheren Buch kritisierte Ratzinger jenes „pelagianische Denken, laut dem im Grund der gute Willen des Menschen genügen würde, um ihn zu retten“.
Apropos Pelagius: Ist es nicht Papst Franziskus, der mehrfach von „Pelagianern“ spricht, allerdings in einem ganz anderen Zusammenhang?
Kardinal Ratzinger fügte damals hinzu: „In diesem Licht besehen, war der Vorwurf der Jansenisten an die Jesuiten, mit ihren Theorien das Jahrhundert zum Unglauben zur führen, nicht ganz unzutreffend.“ Es gibt allerdings nicht nur Karl Rahner, sondern auch gesunde Strömungen in der Gesellschaft Jesu.
Papst Franziskus am Scheideweg
Papst Franziskus befindet sich am Scheideweg. Auf der einen Seite geht es zum Abbruch der Kirche, wohin ihn eine starke innerkirchliche Fraktion, Logen und weltliche Lobbys drängen wollen. Die innerkirchliche Fraktion scheint ihn auf den Stuhl des Petrus gehoben zu haben und ihn als einen der Ihren zu betrachten.
Die Sache scheint entschieden? Mit Blick auf die Kirchengeschichte und die Verheißungen Christi denke (und hoffe) ich, daß Papst Franziskus, wie alle Vorgänger die andere Seite wählen wird, jene der Glaubenswahrheit, der Orthodoxie und des Evangeliums, die davor bewahrt, etwas an der Glaubenslehre zu ändern und die den Haß der Welt provoziert und manchmal auch zum Martyrium führt. Bin ich naiv? Nein, ich vertraue auf den dreieinigen Gott und die Fürsprache der allerseligsten Gottesmutter Maria.
Text: Johannes Thiel
Bild: Wikicommons