(Rom) Am Tag nachdem der Rechtsphilosoph Mario Palmaro und der Publizist Alessandro Gnocchi auf den Seiten der Tageszeitung „Il Foglio“ ihre kritischen Worte an Papst Franziskus veröffentlichten, erschienen unabhängig davon die nicht minder kritischen Anmerkungen des Politikwissenschaftlers und katholischen Publizisten Rino Cammilleri auf den Seiten der Tageszeitung „Il Giornale“. Rino Cammilleri stammte ursprünglich aus der linksextremen Szene der Studentenproteste. Er bekehrte sich später zum katholischen Glauben und gehört seither zu den bekannten marianischen Apologeten in der Publizistik. In seine Kritik läßt er auch Maria einfließen und fragt, ob der Weg nicht schon länger in die falsche Richtung geht und ob das gläubige Volk, von dem Papst Franziskus nun eine „Entscheidung“ verlangt, sich nicht längst entschieden hat, indem es sich Maria zuwendet. Eine Entwicklung, die auch bedenkliche Züge aufweist. Die Bewegung ist jedoch eine Tatsache. Auf sie hinzuweisen nur recht und billig und als Diskussionsbeitrag ein zusätzlicher Akzent..
Papst Franziskus muß aufpassen: „Herde oder Lehre?“ So riskiert man beide zu verlieren
Papst Franziskus zielt auf die christliche Caritas, weil die Kirche in Schwierigkeiten ist. Aber die menschlichen Leiden zu kurieren, ohne an der Orthodoxie festzuhalten, ist eine gefährliche Strategie.
Alles schien improvisiert und spontan
Das berühmte Interview das Papst Franziskus der Civiltà Cattolica gewährte, sollte nun die Frage nach dem Programm des Pontifikats Bergoglio und die Gründe für die Perplexität, die einige „improvisierte“ Aussagen an die Presse oder bestimmte Gesten in einigen ausgelöst haben, geklärt haben.
Es schien zum Beispiel so, daß die erste Reise ausgerechnet nach Lampedusa unter die illegalen Einwanderer, das Ergebnis eines Impulses sei, nachdem er die Bilder des x‑ten Schiffbruchs im Fernsehen gesehen hatte. Die Glückwünsche an die Moslems zum Ramadan, die improvisierten Telefonanrufe an einfache Gläubige, der Pileus-Tausch auf den Plätzen, die Aussagen zu den Arbeitslosen, um Arbeit „zu kämpfen“, die Ablehnung der roten Schuhe, der goldenen Paramente und der Apostolischen Paläste, die Benutzung von Serienautos auf dem Beifahrersitz; das alles eben, ließ Bestimmte daran denken, daß der ehemalige Erzbischof von Buenos Aires sich weiterhin so verhält, wie er es immer getan hat und weiterhin die gesamte Katholizität so betrachtet, als wäre sie die heruntergekommene Peripherie der argentinischen Hauptstadt. Das Verhalten als netter Kerl (es klingelt das Telefon: Ciao, ich bins Papst Franziskus) oder der privilegierte Gesprächszugang für Eugenio Scalfari (den er damit zum „Papst“ der Kirchenfernen beförderte), erlauben es, das so anzunehmen.
Doch alles ist Teil einer präzisen Strategie
Aber das Interview mit der Civiltà Cattolica hat jeden Zweifel weggefegt: Der Papst weiß genau, was er tut, und das, was er tut, ist Teil einer präzisen Strategie. Hier eine Zusammenfassung derselben:
Der moderne Mensch ist inzwischen völlig einer relativistischen Kultur hörig, die jeden göttlichen wie menschlichen Wert annulliert hat. Ihm von nicht verhandelbaren Grundsätzen zu sprechen ist reine Zeitverschwendung: er versteht sie nicht mehr. Die Angriffe von Jahrhunderten gegen die Autorität haben obsiegt und die Menschen ertragen keine Lehrmeister mehr. Die heutige Zivilisation ist aber auch ein Fleischwolf, der auf exponentielle Weise die Zahl der Ausgestoßenen erhöht. Der moderne Mensch, verletzt und gebrochen von der dunklen Seite der Moderne (die zwar allen Glück verspricht, aber einen noch nie dagewesenen Grad an Unbehagen hervorgebracht hat), liegt blutend am Boden und hält Ausschau nach der Hand, die ihm aufhilft und ihn pflegt, und dabei spielt es keine Rolle, daß es die Hand eines Samariters ist (und damit von einem Angehörigen einer Kategorie, die man ihn zu hassen gelehrt hatte).
Hier also das Programm des Papstes: Die Arme ausbreiten für die Leidenen und die drop-out, ohne zu polemisieren, ohne zu widersprechen, ohne die Fehler vorzuhalten. Sobald die Situation der Hilfsbedürftigkeit den Panzer im Kopf gelöst hat, wird der Pechvogel in der Kirche eine barmherzige Mutter erkennen und nicht mehr, wie es ihm eingetrichtert wurde, ein ideologisches Machtzentrum. Das dringendste Problem ist die Glaubenskrise. Die moralische Krise ist nur eine Konsequenz der ersteren. Hier, sagt Papst Franziskus, gilt es neu zu beginnen. Von Null auf. In diesem Licht erscheint der modus operandi von Bergoglio klarer.
Franziskus verlangt gigantische „religiöse Entscheidung“ der ganzen Kirche: Orthopraxie vor Orthodoxie?
Das, was er vorschlägt, ist eine Art von gigantischer „religiöser Entscheidung“ durch die gesamte Kirche: in primis die menschlichen Leiden kurieren, dann, erst dann, den Katechismus lehren und den ganzen Rest. Deshalb auch seine Zurückhaltung über „unbequeme“ Themen zu sprechen wie Homo-Ehe, Abtreibung und Euthanasie. Er sagt: Was die Position der Kirche in diesen Fragen ist, wissen alle und es ist unnötig, daß der Papst sie dauernd wiederholt. Ja aber – möchte man einwerfen – auch der Primat der Orthopraxie vor der Orthodoxie (um die Sprache der klerikalen Sachverständigen zu gebrauchen) ist ein dà¨jà vu.
Genügt es die Kirche in eine Mega-Caritas zu verwandeln, um neu zu evangelisieren?
Vom Primat zur Abkehr ist der Schritt dann aber nur mehr kurz. Eine von der Orthodoxie losgelöste Praxis haben wir bereits in der berühmten „Befreiungstheologie“ erlebt. Wenn du nicht konstant deine Doktrin in die Praxis einimpfst, wird eine andere den Platz einnehmen, vielleicht eine, die ihr ähnelt: gestern der Marxismus, morgen das relativistische Gutmenschentum. Das ist eine Gefahr, die – so hoffen wir – mitberücksichtigt ist. Wird es genügen, die gesamte Kirche in eine Art Mega-Caritas umzuwandeln, um neu zu evangelisieren? Ist es wirklich eine erfolgreiche und zielführende Idee, den Menschen das Bild von Kirche zu geben, das die Menschen wollen (Gratisversorgung, aber Schweigen zu Sünde und Irrtum)? Auf diese Fragen wird nur die Zukunft Antwort geben können.
Inzwischen haben wir aber zumindest ein Beispiel aus der Vergangenheit: Mutter Teresa, die in Indien genau das tat, was Papst Bergoglio allen Katholiken heute nahelegt: die stille Liebe. Sie stand den Aussätzigen und Sterbenden bei, ohne über die Lehre von Christus zu sprechen. Die Inder, die sie bereits des Proselytismus beschuldigten, hätten sie und ihre Schwestern verjagt. Außerhalb Indiens, wo sie reden konnte, beharrte sie auf der Orthodoxie. Was aber bleibt in Indien von dieser harten Arbeit unter den „Letzten“? Die Christianisierung des Subkontinents macht große Fortschritte? Die Christen des Landes werden nicht mehr verfolgt?
In Erwartung, daß die „Samariter“-Strategie von Papst Bergoglio Ergebnisse bringt, bleibt die Frage, wieviel Sinn eigentlich noch ein Vorhof der Völker von Kardinal Ravasi macht, jener kostspielige Laufsteg für die verschiedenen Scalfaris & Odifreddis. Angeblich sagen der berühmte „Dialog“ und ebenso der Ökumenismus, die Theologie und die Apologetik, alles alte Eisen wie der Katechismus selbst, dem modernen Menschen ja nichts mehr. Ganz im Gegenteil, es scheint, daß sie ihn vielmehr nerven und abstoßen. Daher die „religiöse Entscheidung“.
Im Übrigen aber, hat das „Volk Gottes“ diese Entscheidung nicht schon getroffen und zwar aus eigener Initiative, indem es die Pfarreien zunehmend meidet und sich in Richtung Marienwallfahrtsorte bewegt? Dort spricht die Gottesmutter nicht von „Katechismus“ und „Glaubenslehre“. Sie sagt vielmehr: „Bekehrt euch, betet und fastet“.
Ob sie das sagt, weil die Stunde nahe ist, da der Vorhang fällt? Wer weiß…
Einleitung/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Messa in Latino/Legio Marià¦