(Peking) Die Volksrepublik China, der stabil erscheinende Riese in Ostasien bewegt sich zwischen einigen Tretminen im eigenen Land. Dazu gehört im chinesischen Kerngebiet generell das als Probelm betrachtete Thema Religion. Die Folgen zeigen sich unter anderem in der Unterdrückung des Christentums. Die katholische Kirche ist dreigeteilt und kennt eine seit Jahrzehnten im Verborgenen existierende Untergrundkirche. In Tibet schwelt seit der militärischen Besetzung des buddhistisch-theokratischen Himalajareiches ein ethnisch-religiöser Unabhängigkeitskampf. Nicht weniger brisant, aber im Ausland kaum beachtet, befindet sich die Volksrepublik auch in der riesigen Nordwestprovinz Xinjiang auf religiösem Kollisionskurs: dort mit den Islam. Die Verwaltungseinheit heißt mit offiziellem Namen Uigurisches Autonomes Gebiet Xinjiang und ist im Deutschen auch als Sinkiang bekannt. Das Gebiet ist so groß wie die Bundesrepublik Deutschland, Österreich, die Schweiz, Liechtenstein, die Benelux-Staaten, Frankreich, Italien, Slowenien und Großbritannien zusammen und hat eine Bevölkerung von fast 22 Millionen Einwohnern.
Uiguren Ostturkestans sind vorwiegend Moslems
Die einheimische Mehrheitsbevölkerung der Uiguren sind zum größten Teil Moslems. Obwohl bereits 1757 vom chinesischen Kaiserreich erobert, konnte das Gebiet erst mit der Ausrufung der kommunistischen Volksrepublik China dauerhaft an Peking gebunden werden. 1953 stellten die Uiguren noch 75 Prozent der Bevölkerung. Durch starke staatlich geförderte Zuwanderung von Han-Chinesen, betragen sie heute nur mehr 45 Prozent. Der Anteil der Han-Chinesen erhöhte sich im gleichen Zeitraum von knapp vier Prozent auf 41 Prozent. Nur gemeinsam mit den anderen moslemischen Turkvölkern der Kasachen (6,5 Prozent) und Kirgisen (0,8 Prozent), halten die ebenfalls turkstämmigen Uiguren die Mehrheit.
Die Regierung in Peking reagiert nervös und mit Brutalität auf religiöse Regungen in der Öffentlichkeit, die grundsätzlich als politische Kundgebung ausgelegt werden. Am vergangenen Freitag kam es zu den bisher jüngsten Gewaltausbrüchen. Eine Gruppe von Moslems verließ die Moschee von Hanerik in der Nähe von Hotan und sang dabei religiöse Mottos. Die Polizei schoß ohne langes Zögern scharf. Zwei Tote und ein Schwerverletzter blieben vor der Moschee liegen. Dies berichten Augenzeugen. Eine offizielle Bestätigung gibt es nicht. Für die Behörden existiert kein Vorfall.
Angespannte Stimmung nach Unruhen mit 50 Toten
Die Gewalttat zeigt, auf welch spitzen Nadeln die Polizei in Xinjiang sitzt und wie der Finger am Abzug locker ist. Der vergangene Freitag wurde nämlich von Unruhen in der Stadt Hotan geprägt, wo es zu Zusammenstößen zwischen Moslems und Polizei kam. Die Mobiltelefonnetze der Gegend wurden von den Behörden abgeschaltet und an allen Zufahrtswegen Straßensperren errichtet.
Die Polizei stürmte die Moschee von Hotan, um alle Anwesenden einer Personenkontrolle zu unterziehen. Der Imam der Moschee hatte sich geweigert, eine von den Behörden vorgeschriebene Rede zu halten. Die Kommunistische Partei Chinas macht sich nicht viele multikulturelle Skrupel. Religiöse Gemeinschaften werden nur akzeptiert, wenn sie sich der Parteilinie beugen. Aus demselben Grund wurde zur regimetreuen Überwachung der Katholiken die Patriotische Vereinigung gegründet. Zur Kontrolle des Buddhismus setzte Peking einen eigenen Panchem Lama ein. Gleiches gilt für die Moslems in Xinjiang. Die staatliche Religionsbehörde, die auf allen Verwaltungsebenen existiert, übt eine strikte Überwachung aus. Bald beginnt der moslemische Fastenmonat Ramadan und den Minderjährigen ist es verboten, an religiösen Aktivitäten teilzunehmen, einschließlich des Fastens und der rituellen Mahlzeiten. An allen öffentlichen Orten, neuerdings auch an Tankstellen, müssen Frauen ihren Schleier ablegen. Die Uiguren, die kulturelle Kontakte in den vergangenen Jahrhunderten vor allem zu Rußland und zu China unterhielten, kennen keine Burqa. Die Frauen tragen entweder ein normales Kopftuch oder ein buntes, verziertes Käppchen, das jenen der Männer ähnelt unter dem man auch die Haare sehen kann. Dennoch verlangen Behörden und Sicherheitskräfte, daß es abgelegt wird. Für Peking handelt es sich dabei um eine unausgesprochene Form der kommunistischen Umerziehung. „Sie nehmen die Frauen ins Visier, die eine Hockbedeckung tragen, egal ob alt oder jung, wegen der Überzeugung, daß der Gebrauch im Zusammenhang mit dem islamischen Terrorismus steht“, berichtete ein Einwohner von Hotan auf Radio Free Asia.
Die Unruhen in Hotan erfolgten nur zwei Tage nach einem anderen schwerwiegenden Vorfall in Lukchun im Bezirk Pishan. Die Polizei meldete 27 Toten. Am vergangenen Freitag erhöhte sie die Zahl der Getöteten auf 35. Ein von Radio Free Asia interviewter Augenzeuge sprach von mindestens 46 Toten. Elf davon uigurische Demonstranten und 35 Polizisten.
„Terroristischer Angriff“ oder ethnischer Aufstand gegen Staatswillkür?
Die chinesischen Behörden sprechen von einem „terroristischen Angriff“. Laut Angaben des lokalen Bloggers Wang Qiaojun habe es sich hingegen um einen Zusammenstoß gehalten, dessen auslösendes Moment eine Baustelle war. „Die Angehörigen der ethnischen Minderheiten finden es untragbar, daß ganze Wohnegebiete dem Erdboden gleichgemacht werden, um eine Müllverbrennungsanlage zu bauen.“ Für den Blogger hatten Religion und Unabhängigkeitsstreben der Uiguren nicht direkt mit dem Vorfall zu tun, sondern „eine tiefsitzende Unfähigkeit zwischen Behörden und Bevölkerung zu kommunizieren“. Der willkürliche Umgang des Staates mit dem Grund, egal von Wohngegenden oder landwirtschaftlich genützter Raum haben bereits zu Tausenden Unruhen in der gesamten Volksrepublik geführt. In ethnisch heiklen Gebieten wie Xinjiang und Tibet werden die Eingriffe zusätzlich als Angriff gegen die Minderheiten empfunden und führen leicht zur Explosion ethnischer Konflikte.
In zwei Tagen könnte es noch schlimmer kommen. Am 5. Juli feiern die Uiguren den 4. Jahrestag der Gewalt von Ürümqi, wo chinesische Volksarmee und Polizei gewaltsam die uigurische Unabhängigkeitsrevolte niederschlugen. Die Uiguren hatten 200 Tote zu beklagen.
Jahrestag der 200 Toten von Ürümqi – Warum sind Dschihadisten mit Peking so nachsichtig?
Die Behörden bereiten sich auf den Jahrestag vor. 19 führende uigurische Aktivisten wurden präventiv in Sicherheitsgewahrsam genommen worden. Die offizielle Begründung dafür ist vage und undurchsichtig. Der 5. Juli geht dem Ramadanbeginn nur kurz voraus. Die Regierung in Peking befürchtet durch dieses zeitliche Zusammenfallen einen Sturm. Dem Regime kommt es jedoch zunutze, daß das internationale Dschihadsystem des islamischen Terrorismus Ostturkestan und die Volksrepublik China insgesamt nicht beachtet.
Al-Qaida zeigt kein Interesse, die 200 toten Uiguren von 2009 zu rächen, die Schändung der Moschee von Hotan oder die Toten von Hanerik. Bei einem Dänen reicht es, Mohamed zu zeichnen, um sich eine Todes-Fatwa einzufangen. Ariel Sharon genügte noch weniger, um eine fünfjährige Intifada auszulösen, als er im September 2000 den unter arabischer Verwaltung stehenden Tempelberg in Jerusalem besuchte. Über die Notwendigkeit des Besuches in Begleitung einer Tausendschaft Polizisten läßt sich streiten. Die Geste steht aber in keinem Verhältnis zu den Gewaltmaßnahmen der chinesischen Polizei. In Nigeria genügte ein unglücklich hingeworfenes Wort über Mohamed durch den Pressesprecher eines Schönheitswettbewerbes, um eine unglaubliche Welle antichristlicher Gewalt auszulösen, die mehrere Hundert Todesopfer forderte.
Gegenüber der Volksrepublik China und deren Umgang mit ihrer moslemischen Minderheit reagiert der islamistische Terrorismus erstaunlich gleichgültig. Warum?
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons/Asianews