Dr. Klaus Obenauer hat in seiner gewohnt ausgewogenen Art versucht, Kardinal Brandmüllers Beitrag zum Konzil (vgl. den Bericht von pius.info) zu verteidigen, indem er in einem Aufsatz meint, dem Kardinal gehe es nicht um eine Nivellierung von Dogmen und nicht-unfehlbaren Aussagen des Lehramts, sondern um das, was Obenauer die „Untergrenze“ der lehramtlichen Verkündigung nennt.
Pater Mathias Gaudron Antwort beschäftigt sich nicht damit, was Kardinal Brandmüller gemeint oder nicht gemeint hat, sondern mit der These von Dr. Obenauer, denn sie ist tatsächlich ein zentraler Punkt der augenblicklichen Diskussionen zwischen der Piusbruderschaft und Rom: Kann das nicht-unfehlbare Lehramt vom Glauben abfallen?
Den Beitrag von P. Matthias Gaudron haben wir mit freundlicher Genehmigung von pius.info übernommen. Wir möchten damit die Diskussionen aufrechterhalten und veröffentlichen gern weitere Aufsätze zu diesem wichtigen Thema.
Dr. Klaus Obenauer gibt in seinem Beitrag zu, dass das Lehramt in Fällen, in denen es nicht mit endgültiger Verpflichtung spricht, selbstverständlich grundsätzlich irren kann bzw. ein Irrtum hier eben nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann.
Er stellt dann aber die Frage: „Bis wieweit kann das Lehramt in solchen Fällen irren, fehlgehen?“ Seine Antwort: „Ein, und sei es nur inhaltlicher (nicht böswillig gewollter), Abfall vom Glauben, und zwar dessen ganzer Integralität nach, kann es nicht geben [grammatikalisch richtig müsste es wohl heißen: kann nicht vorkommen]; derart dass wir es mit einem (und sei es nur ‚materiell’) vom integralen Glauben abgefallenen Lehramt zu tun haben.
So weit kann also ein (prinzipiell möglicher, aber nicht von vornherein zu unterstellender) Irrtum des (nicht endgültig verpflichtenden und daher nicht-unfehlbaren) Lehramts nie gehen, dass es sich (und sei es bloß inhaltlich) in Widerspruch zum Glauben setzt, das heißt: zu dem, was als zum Glaubensgut gehörig bereits feststeht.“
Es sei aus „ekklesiologischen Gründen ausgeschlossen“, dass sich ein allgemeines Konzil mit dem Papst an der Spitze in eindeutigen Widerspruch zu dem setze, was als zum Glauben gehörig feststeht.
Eine solche These kann man zwar vertreten und dafür auch gute Gründe anführen, sie kann aber meines Erachtens nicht einmal als sichere Meinung (sententia certa) gelten, sondern keinen höheren Wahrheitsanspruch als den einer wahrscheinlichen Meinung (sententia probabilis) erheben. Eine sententia probabilis ist eine Lehre, für die es ernste, aber nicht völlig überzeugende Gründe gibt. Auch die gegenteilige Ansicht hat ihre Argumente und ist darum vertretbar.
Der papa haereticus
Eine ganze Reihe hervorragender Theologen wie Bellarmin, Suarez und Garrigou-Lagrange hielt es nämlich für möglich oder wenigstens für nicht ausgeschlossen, dass der Inhaber der höchsten Lehramts, nämlich der Papst, Häretiker werden könne. Die Theologen diskutierten die Frage, ob ein solcher Papst noch Papst bleibe oder automatisch abgesetzt sei, ob ihn ein Konzil absetzen könne oder wenigstens seine schon durch Christus erfolgte Absetzung erklären könne, ohne dieses Problem allerdings befriedigend lösen zu können.
Papst Paul IV. lebte bekanntlich sogar in der beständigen Angst, es könne einmal ein Mann mit zweifelhaftem Glauben auf den päpstlichen Stuhl gewählt werden, und erließ daher die Bulle Cum ex apostolatus officio, nach der eine solche Wahl von vorneherein ungültig sein sollte.
Große Theologen vertraten auch die Ansicht, dass der Papst der Kirche durch seine Regierung schweren Schaden zufügen könne und es in diesem Fall ein Recht auf Widerstand gebe. So schreibt Suarez: „Wenn nämlich (der Papst) etwas gegen die guten Sitten anordnet, soll man ihm nicht gehorchen. Wenn er irgendetwas gegen die offensichtliche Gerechtigkeit und das Allgemeinwohl unternimmt, so ist es erlaubt, ihm zu widerstehen.“ (Opera omnia X, Paris 1856 ff, S. 321, Tractatus de fide dogmatica, disp 10, sect. 6, nr. 16) Und der heilige Robert Bellarmin meint: „So wie es demnach erlaubt ist, einem Papste zu widerstehen, welcher den Körper anfällt, so ist es auch erlaubt, dem zu widerstehen, welcher die Seelen beängstigt oder den Staat verwirrt, und um so mehr, falls er die Kirche zu zerstören trachtete. Es ist erlaubt, sage ich, ihm Widerstand zu leisten, indem man seine Befehle nicht erfüllt und verhindert, dass sein Wille realisiert werde.“ (Über den Papst, Augsburg 1843. S. 403, 2. Buch, Abschn. 29)
Schließlich heißt es in der Botschaft von La Salette, deren Verbreitung die Kirche erlaubt hat, sogar: Rom wird den Glauben verlieren. Man sollte also nicht vorschnell die Möglichkeit von katastrophalen Prüfungen ausschließen, die alles übersteigen, was bisher an Prüfungen über die Kirche kam. Christus sagt schließlich selbst über die Prüfungen der Endzeit, diese seien so schrecklich, dass kein Mensch gerettet werden könnte, wenn die Tage nicht abgekürzt würden (vgl. Mt 24,22).
Wenn ein häretischer Papst nicht auszuschließen ist, wenn „Rom den Glauben verlieren kann“, dann kann man auch nicht mit Gewissheit ausschließen, dass ein Konzil in einem nicht-unfehlbaren Text einen Glaubensirrtum verkünden kann. Man mag der Meinung sein, so etwas werde nicht vorkommen, aber man kann denen, die es für möglich halten, nicht vorhalten, sie hätten die Grundlage des katholischen Glaubens verlassen. Somit bleibt die Aussage von Kardinal Brandmüller auch in der wohlwollenden Interpretation Obenauers falsch.
Das II. Vatikanum
Dies waren vor allem theoretische Überlegungen. Faktisch hat das 2. Vatikanische Konzil keine Häresie verkündet, d. h. es hat nicht direkt gegen eine feststehende Glaubenswahrheit verstoßen. Das Konzil hat aber Irrtümer verkündet, „die zwar nicht direkt gegen den Glauben verstoßen, aber dennoch mit der überlieferten Lehre und Praxis der Kirche unvereinbar sind und wenigstens in ihren Folgen auf Glaubensirrtümer hinauslaufen“. Mit seinen Lobeshymnen auf die anderen Religionen und seinem Ökumenismus hat es einen Indifferentismus befördert, der alle Religionen für mehr oder weniger gleich gut hält.
Es ist leider keine Übertreibung, wenn man behauptet, das Konzil habe die Völker in die Apostasie geführt. Von konservativer Weise will man leider oft einfach nicht den Tatsachen ins Auge sehen: Wir haben heute zahlreiche Häretiker auf den Bischofs- und Theologenstühlen, und bei der in den Pfarreien geübten Verkündigung ist es für einen Gläubigen im Normalfall fast unmöglich, nicht zum materiellen Häretiker zu werden.
Die Behauptung, das Konzil habe damit gar nichts zu tun, wird durch ihre ständige Wiederholung nicht glaubwürdiger. Selbstverständlich liegen die Wurzeln dafür im Konzil, und ist es kein Zufall, dass im Gefolge des Konzils eine furchtbare Glaubenskrise über die Kirche hereingebrochen ist.
Die nachkonziliaren Päpste
Man darf auch nicht so tun, als hätten die nachkonziliaren Päpste nichts mit der Glaubenskrise zu tun. Besonders bei Johannes Paul II. waren wir gar nicht so weit vom papa haereticus entfernt, denn was soll man von einem Papst halten, der den Gläubigen in einer Generalaudienz (am 9. September 1998) erklärt, alle Religionen seien vom Heiligen Geist angeregt und ihre Gründer hätten „mit der Hilfe des Geistes Gottes eine tiefere religiöse Erfahrung gemacht“? Was soll man denken, wenn ein Papst mehrfach an heidnischen Zeremonien teilnimmt und den Koran küsst? Die verharmlosende Erklärung, Johannes Paul sei Pole gewesen und ein Pole küsse alles, was man ihm überreicht, ist hier wenig hilfreich.
Sicherlich hat Johannes Paul II. auch oft bewiesen, dass er katholisch bleiben und kein Häretiker sein möchte, aber ein Problem bleibt hier. Die einzige Lösung, die ich dafür anbieten kann, ist die des liberalen Katholizismus, wie ihn beispielsweise Pius IX. oder Kardinal Billot beschrieben haben. Der liberale Katholik will einerseits katholisch bleiben, andererseits der gottlosen Welt aber auch gefallen und ihr so weit wie möglich entgegenkommen.
Selbst im Pontifikat Benedikts XVI. gab es manches, was man als Katholik nicht begreifen kann. Wieso ließ er seine alten Bücher weiter auflegen (zum Teil mit neuem Vorwort), in denen sich Ausführungen finden, die der Häresie wenigstens nahe stehen? Wie kann ein Papst sagen, die Protestanten seien „auf andere Weise Kirche“ und im Protestantismus habe das Christentum „sozusagen eine Akzentverschiebung vorgenommen“ (Licht der Welt, S. 120 f)? Damit wird dem Protestantismus doch eine Existenzberechtigung zugeschrieben.
Im gleichen Buch sagte er einerseits, „dass es nicht zwei Heilswege gibt, dass also Christus auch der Retter der Juden, nicht bloß der Heiden ist“, aber er fügt gleich hinzu, in dem neuen Gebet werde „nicht unmittelbar für die Bekehrung der Juden im missionarischen Sinne gebetet“, sondern nur darum, „dass der Herr die geschichtliche Stunde herbeiführen möge, in der wir alle miteinander vereint sein werden“ (S. 133). Für einen logisch denkenden Menschen dürfte kaum nachvollziehbar sein, wieso man nicht um die Bekehrung der Juden beten solle, wenn Christus der Retter der Juden ist.
Wie Dr. Obenauer am Schluss seines Beitrags betont, gibt es in den Fragen um das 2. Vatikanische Konzil einen Diskussionsbedarf. Diese Diskussion wird von Seiten Roms bis auf den heutigen Tag insofern verweigert, als jede grundsätzliche Kritik des Konzils verboten wird.