Selbstmord wird in moralischer und religiöser Hinsicht negativ bewertet. Darüber hinaus ist er jedoch einer der aussagekräftigsten und objektiv-statistisch leicht feststellbarer Gradmesser für das Wohlbefinden. Bereits seit der klassischen Studie von Émile Durkheim (1897), die als erste wissenschaftliche soziologische Studie überhaupt gilt, ist bekannt, daß unter gläubigen Menschen im Vergleich zu nicht gläubigen die Selbstmordrate geringer ist. Im Detail gibt es zudem weniger Selbstmorde bei Katholiken als bei Protestanten.
Die Interpretation für dieses Phänomen, die der Vater der Soziologie gab, gründet auf dem Konzept der Anomie. Der Rückgang oder Verlust von religiösen Normen und Werten (a‑nomos, ohne Gesetz) führt zu Störungen der sozialen Ordnung und zum Verlust von gesellschaftlicher Integration. Folgen der Anomie sind bei Menschen das Gefühl des Verlassenseins, wachsende Unzufriedenheit und Ängste, die bis zum Selbstmord führen können. Gläubige Menschen haben jedoch Ideale, an denen sie sich festhalten und in jeder Situation ausrichten können. Sie geben Halt und Trost. Die Katholiken sind mehr als die Protestanten in eine Gemeinschaft und soziale Beziehungen eingebunden, was anomische Erscheinungsformen weiter reduziert. Das katholische Netzwerk ist weit dichter gespannt als das protestantische, weil der protestantische, dieseitsbezogene Leistungsdruck fehlt und ein Scheitern nach menschlichen Maßstäben im Katholischen als Möglichkeit stets miteingeschlossen ist.
Mehr als ein Jahrhundert nach der bahnbrechenden Studie von Durkheim wurde im Sommer 2012 eine Universitätsstudie zum Thema veröffentlicht. Dabei wurden die in der Schweiz vollzogenen Selbstmorde zwischen 1981 und 2001 untersucht, einem Land also, in dem katholische Kirche und protestantische Glaubensrichtungen historisch nebeneinander existieren. Die Studie Suicide and Religion: New Evidence on the Differences Between Protestantism and Catholicism wurde von Benno Torgler (EBS Universität für Wirtschaft und Recht, Oestrich-Winkel) und Christoph Schaltegger (Universität Luzern) erstellt.
Die Studie liefert wertvolle Erkenntnisse wegen der Homogenität der untersuchten Fälle, die alle aus dem demselben politischen und wirtschaftlichen Umfeld kommen, die das stabile Schweizer Staatswesen auszeichnen. Die Studie bestätigte Durkheims Erhebungen des späten 19. Jahrhunderts: Protestanten neigen häufiger zu Selbstmord als Katholiken. Konkret: bei gleichen sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen (Einkommen, Familienverhältnisse usw.) nimmt die Selbstmordrate eines Kantons ab, je höher der Katholikenanteil ist.
*Robert Reggi, Jahrgang 1974, Promotion in Philosophie (1998), Diplomstudium der Theologie (2007), Diplomstudium der Bildungswissenschaften (2007), Lizentiat in Biblischer Theologie (2007), Psychologie (2009), Anthropologie (2011), Mitarbeiter von Radio Maria, UCCR, Mitglied im wissenschaftlichen Komitee von Cathopedia.
Erstveröffentlichung: UCCR
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: UCCR