Am 20. Januar 1942 fand auf Einladung von SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich, dem Leiter des Reichssicherheitshauptamtes in einer Villa am Berliner Wannsee eine „Besprechung mit anschließendem Frühstück“ von Staatssekretären verschiedener Ministerien und hohen Funktionären der NSDAP und der SS statt. Das Thema der Besprechung, die als „Wannsee-Konferenz“ in die Geschichte einging, war die Koordinierung und Durchführung der „Endlösung der Judenfrage“. SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, Leiter des Referats IV D 4 (Reichszentrale für jüdische Auswanderung) des Reichssicherheitshauptamtes, führte Protokoll und überlieferte auf diese Weise Inhalt und Ergebnis der Besprechung. Die Ermordung von Juden hatte seit dem Kriegsausbruch am 1. September 1939 eine kontinuierliche Steigerung erlebt. Mit der Wannseekonferenz sollte sie eine systematische Form erhalten, die in den Vernichtungslagern im Osten zum Völkermord wurde.
Zum 70. Jahrestag der Konferenz „Am Großen Wannsee 56–58“ finden Gedenkveranstaltungen der überlebenden Opfer und deren Nachkommen statt. Die Bundesrepublik Deutschland erinnert mit „Scham und Zorn“, so Bundespräsident Christian Wulff, an das unmenschliche Leid, das durch den Rassenwahn verursacht wurde. Der Jahrestag ist allerdings auch Anlaß zu Fragen, ob und was aus der Geschichte gelernt wurde, derer man zurecht gedenkt.
Heute wüßte jeder genau, was damals zu tun gewesen wäre
Das Beklagen der Toten, zwar noch verhältnismäßig naher, aber – Gott sei Dank – doch vergangener Zeiten bleibt ein bloßer Blick zurück auf ein nicht mehr beeinflußbares, nicht mehr veränderbares Geschehen. Das vielgeäußerte und vielfach beschworene „Lernen“ aus der Geschichte kann sich daher nur auf das Jetzt beziehen. Heute muß sich in Mitteleuropa niemand gegen Vernichtungslager und „Totenkopf“-Schergen engagieren. Niemand muß sich Gedanken machen, wie er eventuell einen von der SS gejagten jüdischen Nachbarn schützen oder retten könnte, wieviel er dafür bereit wäre zu riskieren und zu verlieren.
Jede Zeit hat ihre Herausforderungen. Es liegt in der Natur der Dinge, daß heute jeder „genau wüßte“, was damals zu tun gewesen wäre. Doch dieses Gedankenspiel bleibt reine Fiktion. „Richtig“ handeln kann man nur im Jetzt, wo man als Individuum gefordert ist mit dem eigenen Denken, mit dem Wissen des Augenblicks, mit den Irreführungen des heutigen Zeitgeistes, nicht jenes von 1940 oder 1942, mit den persönlichen Entscheidungen, diese oder jene Handlung zu setzen, die Stimme zu erheben oder zu schweigen, hinzusehen oder wegzusehen.
Ein Morden unvorstellbaren Ausmaßes
Was sind aber die Herausforderungen unserer Zeit, in denen wir zu bestehen haben oder versagen? Jeder wird einige zu nennen wissen. Gibt es jedoch in der „weltbesten“ Demokratie, bei uns, nicht in fernen Ländern irgendwo in der Welt, eine Herausforderung, die mit dem schrecklichen Morden vergleichbar ist, das vor mehr als zwei Generationen stattfand und sich unter den Bezeichnungen „Holocaust“ und „Shoah“ wie ein Schauer in das kollektive Gedächtnis eingegraben hat? Für die Opfer kaum, aber für alle anderen?
Ja, es gibt eine vergleichbare Herausforderung. Während seit Jahrzehnten sich Gedenkveranstaltung um Holocaustveranstaltung, Shoahgedenken um „Wehret den Anfängen“-Parolen pflichtmäßig aneinanderreihen und sich die dominante kulturelle Strömung unserer Zeit selbstgefällig sicher zu sein scheint, alles anders gemacht zu haben, als es die Großväter und Urgroßväter getan haben, werden täglich Hunderte ungeborener Kinder ermordet. Mitten unter uns, sozusagen nebenan. Seit bald 40 Jahren ist in Deutschland ein Morden unvorstellbaren Ausmaßes im Gange, das mindestens acht Millionen Menschenleben gekostet hat. Kinder, die gezeugt wurden, doch nie das Licht der Welt erblicken durften. Die man, im Jugendjargon von heute, „plattgemacht“ hat, ehe sie geboren wurden.
Selbst der Reichsführer-SS Heinrich Himmler, der für seinen „Führer“ der Ideator und Organisator der Judenvernichtung war, muß eine ferne Ahnung eines Gewissens gehabt haben, weil er die Ermordung von Juden, von Geisteskranken und anderer Opfer der nationalsozialistischen Ideologie unter strikter Geheimhaltung hielt. Was vor 70 Jahren geschah, war die „geheime Reichssache“ einer Diktatur, die eine Mordspirale entfachte, von der sie schließlich selbst verschlungen wurde.
Jeder weiß, wo jahrein jahraus die Kinder getötet werden
Heute aber leben wir in einer Demokratie. Es ist der Gesetzgeber, der im Parlament Mordgesetze erläßt. Erst im Sommer 2011 besiegelte der Deutsche Bundestag durch Zulassung der Präimplantationsdiagnostik das Schicksal von ungeborenen Kindern, die vielleicht eine Behinderung haben könnten. Bundesrat und Bundespräsident stimmten durch Bestätigung und Unterschrift zu. Dänemark verkündete bereits begeistert, daß es ab 2030 keine Kinder mit Down Syndrom mehr geben wird. Nicht, weil diese Chromosomen-Veränderung beseitigt sein wird, sondern weil man alle Kinder, mit dem Verdacht auf Down-Syndrom erfolgreich getötet haben wird. Es sind die Krankenkassen, die den Mord an den ungeborenen Kindern finanzieren. Fanatiker fordern heute ganz offen ein „Recht“ auf Ermordung ungeborener Kinder. Das ist fürwahr neu. Es gibt wohl keinen bekannten Fall aus der NS-Zeit, wo irgendein SS-Offizier öffentlich ein „Recht“ auf Ermordung der Juden eingefordert hätte.
Es ist nicht irgendwo im unbekannten Osten, wo das Grauenhafte geschieht. Heute weiß jeder, wo jahrein jahraus die Kinder getötet werden. Wo liegen dann die Vernichtungslager Auschwitz, Sobibor, Treblinka, Majdanek, Kulmhof und Belzec heute? Ganz in unserer Nähe. Überall. Es ist ein kapillares, perfekt organisiertes Netz. Dort, wo man am Fließband mordet und damit noch ein Geschäft macht.
Ist das Versagen heute in einer Demokratie, wo alle alles wissen, nicht individuell gravierender als das Versagen damals in einer Diktatur, als zwar viele irgendetwas ahnten, aber nur ganz wenige wußten?
Millionen, die in die Gewaltspirale der Abtreibung verstrickt sind
Vor 70 Jahren waren viel zu viele, aber doch verhältnismäßig wenige Mitwisser und noch weit weniger Täter beim großen Morden. Heute sind es Millionen, die in die Gewaltspirale der Abtreibung verstrickt sind. Jedes getötete Kind hat einen Vater und eine Mutter. Wie viele geben „gute“ Ratschläge, das namenlose „Etwas“ loszuwerden, dessen Menschsein sprachlich zum Selbstbetrug und zur Gewissensabtötung geleugnet und verschleiert wird. Wieviele liefern in einem „Freundschaftsdienst“ eine Adresse, eine Telefonnummer, wo man „das“ machen lassen kann, statt um das Leben des Kindes zu kämpfen, sich einem Verbrechen in den Weg zu stellen, die Mutter von einer Wahnsinnstat abzuhalten.
Seriöse Schätzungen gehen davon aus, daß bereits rund ein Drittel der Bevölkerung direkt oder indirekt in die Abtreibungsspirale verstrickt wurde. Das erklärt auch das große Schweigen, mit dem jede Diskussion über die Abtreibung tabuisiert werden soll. Wie oft bekommt man den heuchlerischen Satz zu hören: „Ich persönlich bin ja gegen Abtreibung, aber …“, eine Gesetzesänderung will man nicht nach dem Motto „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß“, denn die „Möglichkeit“ zur Abtreibung möchte man ganz utilitaristisch doch haben, denn „man weiß ja nie“ und nützt sie auch bei Bedarf. Wie würde das klingen, wenn jemand in der NS-Zeit gesagt hätte: „Ich persönlich bin ja gegen die Ermordung von Juden, aber wenn es andere tun wollen und für richtig halten.“ Ob eine solche Aussage überliefert ist?
Abtreibungslobby von ausgewiesenen Rassisten und Hitler-Verehrern gegründet
Man will heute aber nicht darauf angesprochen oder gar mit einem schlechten Gewissen geplagt werden. Dafür sorgen neuerdings auch Verordnungen, die um Abtreibungskliniken eine Bannmeile ziehen, damit das Abtreibungsgeschäft nicht von lästigen Lebensschützern gestört wird. Dafür sorgen vor allem die Medien, die eine ernsthafte Beschäftigung mit dem Thema sorgsam meiden, wie der Teufel das Weihwasser. Wenn schon, bestenfalls einseitige Propaganda betreiben, denn hinter der Abtreibung steckt viel, sehr viel Ideologie, vielschichtige Ideologie. Kann es ein Zufall sein, daß die Abtreibungslobby von ausgewiesenen Rassisten und Hitler-Verehrern gegründet wurde? Wohl kaum. Gründer und Leiter (1952–1984) des größten deutschen Abtreibungslobbyisten Pro Familia, war der rassenhygienische Demagoge Hans Harmsen, der im NS-Staat zahlreiche Ämter innehatte. Der internationale Abtreibungslobbyist Marie Stopes International geht auf Marie Stopes zurück, einer glühenden Hitler-Verehrerin, die 1921 in England ihre erste Abtreibungsklinik eröffnete und 1935 in NS-Deutschland einen Kongreß über Familienplanung und Rassenhygiene abhielt.
Wer heute versagt, heuchelt, wenn er das Versagen von „damals“ anprangert
Was nützt es also letztlich, wenn man die Jugendlichen klassenweise in die Gedenkstätten verpflichtet? Was nützt es, wenn wir an die Orte des Grauens pilgern, wenn wir anschließend nicht weiterziehen vor die Abtreibungskliniken, um ein Ende des Kindesmordes zu fordern? Wird angesichts der Hekatomben ermordeter ungeborener Kinder, mit zahlreichen dramatischen Folgewirkungen (demographischer Einbruch, fehlender Nachwuchs, sterbende Völker, Alterung der Gesellschaft, Zusammenbruch des Generationenvertrags, nicht mehr gesicherte Altersversorgung, Zuwanderung, Bevölkerungsaustausch, ethnischer, kultureller und religiöser Umbau der Gesellschaft, um nur einige Stichwörter zu nennen, die alle denselben Ausgangspunkt haben: die Tötung der eigenen Kinder) das ständige Gedenken an die Verbrechen vergangener Zeiten nicht zur leeren Pflichtübung, zu einer politischen Instrumentalisierung und damit letztlich zu bloßer Heuchelei?
Ein Resümee? Aus der Geschichte mal wieder nichts gelernt!
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Clemens Franz