Hl. Bernhard v. Clairvaux: Erste Osterpredigt
Ihr Juden überredet Ihn, vom Kreuz herabzusteigen. Was soll ich also tun? Ich beschwöre Dich, Herr, ich beschwöre Dich: folge ihnen nicht! Wenn nämlich nur der gerettet werden kann, der ausharrt (Mt 10, 22), um wie viel weniger wird er Erlöser sein können? Was soll ich meinen Brüdern, Deinen Gliedern, sagen, wenn Du vom Kreuz herabsteigst? Womit soll ich die Kleinmütigen trösten, wie soll ich die Trägen ermahnen und die, die vom Weg der Wahrheit abirren, ja beinahe umkehren? Wie soll ich zu einem solchen sagen: „Verlaß deinen Platz nicht“, wenn er antworten kann: „Auch Christus hat Seinen Platz verlassen“?
Wie viele werden auch jetzt in Versuchung geführt und steigen fast von ihrem Kreuz herab; ja, manche gibt es, die wirklich herabsteigen! Wer wird also noch ausharren, wenn Du herabsteigst und unserer Kleinmütigkeit und Ungeduld einen Vorwand gibst? Werden wir uns zu einem solchen Vorwand nicht ohnehin geneigt finden? Wo ist die Geduld, wo die Demut, deren Nachahmung Du uns aufträgst, wenn Du Deine Macht zeigst, indem Du auf die höhnischen Worte der Juden hin vom Kreuz herabsteigst?
Aus dem Evangelium wird man künftig jene Worte streichen müssen, die so lieblich und süßer als Honig und Honigwaben sind (Ps 18,11): „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“ (Joh 14,31). Der Apostel dürfte dann nicht mehr sagen: „Christus hat uns geliebt und sich für uns hingegeben“ (Eph 5,2), und auch jenes Wort dürfte er nicht mehr sagen: „Christus war Seinem Vater gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz“ (Phil 2,8).
Doch siehe, die Versuchung wird noch größer: „Ist Er der König Israels, dann steige Er vom Kreuz herab, und wir werden an Ihn glauben“ (Mt 27,42). Verlangst du Zeichen, Jude? „Harre auf Mich am Tage Meiner Auferstehung“ (Zef 3,8). Wenn du glauben willst: Ich habe dir schon größere Werke gezeigt; Ich habe die Zeichen vervielfacht, Kranke gesund gemacht, gestern und Tag für Tag zuvor; heute steht dagegen Meine Vollendung bevor. War es nicht ein größeres Wunder, wenn du gesehen hast, daß die bösen Geister aus den Leibern derer gewichen sind, von denen sie Besitz genommen hatten, und daß Gelähmte von ihrer Bahre aufgesprungen sind, als daß aus Meinen Händen und Füßen die Nägel herausspringen, mit denen du sie durchbohrt hast? Aber jetzt ist die Zeit des Leidens, nicht des Wirkens, und wie du vergeblich versucht hast, die Stunde des Leidens vorzeitig herbeizuführen, so wirst du sie auch nicht verhindern können.
Wenn aber das böse und treulose Geschlecht noch immer ein Zeichen sucht, dann wird ihm kein anderes gegeben werden als das Zeichen des Jona (Mt 12,39): nicht das Zeichen des Herabsteigens, sondern das Zeichen der Auferstehung.
Wenn es der Jude nicht sucht, dann ergreife es voll Freude der Christ. Denn „gesiegt hat der Löwe aus dem Stamm Juda“ (Offb 5,5). Der junge Löwe ist durch die Stimme des Vaters geweckt worden, und aus dem verschlossenen Grab ist der hervorgegangen, der vom Kreuz nicht herabgestiegen ist. Ob dies aber etwas Größeres ist, darüber mögen unsere Feinde Richter sein, die so sorgfältig das Grab bewacht hatten, indem sie den Stein versiegelten und Wächter davor stellten.
Dieser Stein nämlich, über den jene frommen Frauen untereinander klagten, war sehr groß. Ihn wälzte aber, als der Herr schon auferstanden war, ein Engel weg und setzte sich darauf, wie es in der Schrift heißt (Mk 16,3 f.; Mt 28,2). Es steht also fest, daß der Leib, der bei der Geburt aus dem verschlossenen Schoß der Jungfrau ins Leben eingetreten ist, aus dem verschlossenen Grab hervorgegangen ist, als Er zu neuem Leben erwachte. Auch zu den Jüngern trat Er durch verschlossene Türen ins Zimmer.
Einen Ort aber gibt es, von wo Er nicht durch verschlossene Türen heraustreten wollte: es ist der Kerker der Hölle. Er zerbrach die eisernen Balken, Er sprengte alle Riegel, um die Seinen, die Er aus der Hand des Feindes losgekauft hatte, frei herauszuführen. Dicht gedrängt sollten aus den Toren die in weiße Kleider gehüllten Scharen heraustreten; sie hatten ihre Kleider gewaschen und im Blut des Lammes weiß gemacht (Offb 7,14): ja gewiß weiß im Blut, denn mit diesem und in diesem floß auch Wasser heraus, das weiß macht; Zeugnis dafür gibt der, der es selbst gesehen hat (Joh 19,34).
Die Auferstehung aber hat Er nicht über den dritten Tag hinaus verschoben, damit sich der Prophet als zuverlässig erweise, als er sagte: „Er wird uns nach zwei Tagen neu beleben, am dritten Tag wird Er uns auferwecken“ (Hos 6,3). Gewiß geziemt es sich, daß auch die Glieder folgen, wie das Haupt vorangegangen ist. Am sechsten Tag hat Gott am Kreuz den Menschen erlöst; es ist der Tag, an dem Er am Anfang den Menschen erschaffen hat. Am folgenden Tag ruhte Er im Grab, nachdem das Werk, das Er auf sich genommen hatte, vollendet war; am dritten Tag aber – es ist der erste unter allen Tagen – erschien Er als der Erste unter den Entschlafenen (1Kor 15,20), als der neue Mensch, der Sieger über den Tod.
So wollen auch wir alle, die wir unserem Haupt folgen, an diesem ganzen Tag, an dem wir geschaffen und erlöst worden sind, unablässig Buße tun, wir wollen nicht ermüden, unser Kreuz auf uns zu nehmen und unter ihm auszuharren, wie auch Er ausgeharrt hat, bis der Geist uns sagt, daß wir von unseren Mühen ausruhen dürfen (Offb 14,13). Hören wir, meine Brüder, auf niemanden, nicht auf Fleisch und Blut, nicht auf jeden beliebigen Geist, der uns rät, vom Kreuz herabzusteigen! Bleiben wir am Kreuz, sterben wir am Kreuz; lassen wir uns von den Händen anderer abnehmen, nicht von unserem eigenen Leichtsinn! Unser Haupt haben gerechte Männer abgenommen, uns aber mögen die heiligen Engel in ihrer Huld herabnehmen, damit wir am zweiten Tag, der dem Tod folgt, sanft ruhen, nachdem wir den Tag des Kreuzes mannhaft bestanden haben.
Glückselig können wir dann im Grab schlummern und „auf die selige Erfüllung unserer Hoffnung warten: auf das Erscheinen der Herrlichkeit unseres großen Gottes“ (Tit 2,13), der unsere Leiber schließlich am dritten Tag auf erwecken und verwandeln wird in die Gestalt Seines verherrlichten Leibes (Phil 3,21). Die aber, die vier Tage liegen, riechen übel, wie von Lazarus geschrieben ist: „Er riecht schon, Herr, denn es ist bereits der vierte Tag“ (Joh 11,39).
Die Verschlagenheit der Kinder Adams hat sich noch den vierten Tag geschaffen; ihn hat Adam nicht vom Herrn empfangen. Der göttlichen Anordnung entsprechen die drei Tage, von denen wir vorhin gesprochen haben: der Tag der Mühsal, der Ruhe und der Auferstehung. Den Menschenkindern gefällt das nicht, sie wollen lieber ihren Tag vorziehen und die Buße verschieben, um ihrer Lust nachzugehen. Das ist nicht der Tag, den der Herr geschaffen hat (Ps 117,24); sie sind denen gleich geworden, die vier Tage liegen, und sie riechen schon übel. Das Heilige, das aus Maria geboren wurde, kannte diesen Tag nicht: Es ist am dritten Tag auferstanden, um die Verwesung nicht zu schauen (Ps 15,10). „Gesiegt hat“ darum „der Löwe aus dem Stamm Juda.“ Das Lamm ist geschlachtet worden, der Löwe aber hat gesiegt. „Brüllen wird der Löwe, und wer wird sich nicht fürchten?“ (Am 3,8)
Stark ist der Löwe, nicht grausam; schwer ist jedoch sein Zürnen, und unerträglich ist der Zorn der Taube. Aber der Löwe wird für die Seinen, nicht gegen die Seinen brüllen. Die anderen mögen erbeben, der Stamm Juda aber frohlocke.
Freuen sollen sich die, die mit Lobpreis bekleidet sind (Ps 103,1), deren Gebeine alle sprechen: „Herr, wer ist Dir gleich?“ (Ps 24,10) Du bist der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids. Er selbst spricht: „Dir ist all mein Sehnen offenbar“ (Ps 37,10), und: „Meine Stärke will ich bei Dir bewahren.“ Er ist die Wurzel deiner Stärke und deines Verlangens, die ersehnte Wurzel, die starke Wurzel.