„Hohe Funktionäre des Vatikans – einschließlich der künftige Papst Benedikt XVI – unternahmen nichts gegen einen Priester, der rund 200 taube Kinder sexuell belästigte, obwohl mehrere amerikanische Bischöfe mehrfach davor warnten, daß das Ausbleiben einer klaren Aktion die Kirche in Verlegenheit bringen könnte.“ So beginnt der „Enthüllungsartikel“ der New York Times, der inzwischen von zahlreichen Medien rund um den Erdball, vor allem aber in den westlichen Ländern mit großen Schlagzeilen übernommen wurde.
Liest man die gesamte Dokumentation der NYT auf ihrer Internetseite jedoch genau, stellt man fest, daß sie das genaue Gegenteil einer solch tendenziösen Lesart enthält. Es geht um Pater Lawrence Murphy, der zwischen 1950 und 1974 Kaplan an einer Schule für taube Kinder in der Diözese Milwaukee war.
Die Dokumente belegen, daß die einzigen, die sich für die Schandtaten von P. Murphy interessierten und dagegen vorgingen, die amerikanischen Bischöfe und die Glaubenskongregation in Rom waren, während die staatlichen Behörden der USA die Mißbrauchsfälle einfach archivierten. Besonders die Glaubenskongregation, die erst in den Jahren 1996 und 1997 mit dem Fall befaßt wurde, gab klare und unmißverständliche Anweisungen, wie gegen Murphy vorzugehen sei, obwohl die Mißbrauchsfälle bereits Jahrzehnte zurücklagen und laut kanonischem Recht eine Verjährung eingetreten war. Diese wurde jedoch wegen der Schwere der Taten aufgehoben.
Alles begann am 15. Mai 1974, als ein ehemaliger Schüler der katholischen St. John’s School für Taube gegen P. Lawrence Murphy eine Anzeige wegen sexuellen Mißbrauchs erstattete. Der Geistliche habe ihn und andere Kinder zwischen 1964 und 1970 mißbraucht, doch der Fall wird nach Ermittlungen vom zuständigen Gericht des Staates archiviert. Die Diözese Milwaukee hingegen entfernt Pater Murphy umgehend aus seiner Stellung. Er darf nicht mehr in der Diözese tätig sein.
Laut einem Schreiben der Diözese Superior aus dem Jahr 1980, lebt Murphy in Bounder Junction (Wisconsin) im Haus seiner Mutter. Sein Priestertum übt er weiter aus, indem er dem Ortspfarrer half. Zwischen Juli und Dezember 1993 gehen weitere Anzeigen bei der Diözese Milwaukee ein, da Opfer ihr Schweigen brechen. Pater Murphy wird vier langen Einvernahmen durch die Verantwortlichen der Erzdiözese unterworfen, bei denen auf Pädophilie-Fälle spezialisierte Psychologen anwesend sind. Es wird das klinische Bild eines „typischen Pädophilen“ sichtbar, was eine Behandlung für Sexualtriebtäter und eine besondere geistliche Betreuung notwendig macht und die sofortige Einschränkung seines priesterlichen Dienstes. Aus den Protokollen der Einvernahmen geht hervor, daß die Anzeigen von 29 Jungen vorliegen. Murphy gibt „nur“ „Kontakte“ zu 19 der Jungen zu. Die Dokumentation belegt, daß die Diözese Milwaukee ihre Ermittlungen auf eigene Faust fortsetzt, um den Fall vollständig aufzuklären. Von der staatlichen Strafverfolgungsbehörde gibt es keine Unterstützung.
Nach Abschluß dieser Ermittlungen wendet sich Bischof Rembert Weakland von Milwaukee am 17. Juli 1996 an den damaligen Präfekten der Glaubenskongregation, Kardinal Joseph Ratzinger, und unterbreitet ihm den Fall Murphy.
Msgr. Weakland erwähnt in seinem Schreiben die Anzeige von 1974 und erklärt, daß er allerdings erst vor kurzem durch weitergehende Ermittlungen erfahren habe, daß einige Fälle von sexuellem Mißbrauch während der Beichte geschahen, so daß er umgehend einen Priester der Diözese, Pater James Connell, mit einer gründlichen Untersuchung beauftragt habe (das Beauftragungsdekret stammt vom Dezember 1995). Ein Hindernis bei der Aufklärung sei die Weigerung der damaligen Kinder und der St. John’s School die schändlichen und peinlichen Umstände öffentlich zu machen, da sie noch darunter leiden und das Aufreißen von Wunden befürchten.
Msgr. Weakland ersucht die Glaubenskongregation um Klärung, ob für diesen Fall nach Can. 1387 des Kirchenrechts die Diözese oder die Kongregation zuständig ist. Aufgrund der Dokumentation scheint es, als sei das Schreiben des Bischofs nicht auf den Schreibtischen von Kardinal Ratzinger und dem damaligen Msgr. Bertone, dem Sekretär der Kongregation gelandet. Die Erzdiözese Milwaukee teilte Pater Murphy am 10. Dezember 1996 jedenfalls mit, daß ein kirchliches Strafverfahren gegen ihn eingeleitet wurde und er sich vor einem eigens gebildeten Gericht zu verantworten habe. Die Anklage fordert „die Entfernung von Pater Murphy aus dem geistlichen Stand“.
Zum Problem wird jedoch die Verjährungsfrist für Verbrechen, die wie in jeder Rechtsordnung eine Verurteilung verhindert. Der Erzbischof von Milwaukee läßt jedoch nicht locker. Unter Berufung auf die physische und psychologische Situation der Opfer beantragt er bei der Glaubenskongregation eine Aufhebung der Verjährungsfirst, was Msgr. Bertone in einem Schreiben für die Kongregation unter Hinweis auf die Schwere der Taten genehmigt.
Ende 1997 wird das Verfahren in die Diözese Superior verlegt, weil Pater Murphy dort lebt und schwer krank ist. Der Vorsitzende des Kirchengerichts bleibt jedoch Pater Thomas Brundage, um keine Verzögerung notwendig zu machen. Aus der Dokumentation der New York Times geht klar die Absicht der kirchlichen Behörde von Milwaukee und Superior hervor, das Verfahren entschlossen und zügig fortzusetzen, um einen Akt der Gerechtigkeit zu setzen und den Opfern endlich Recht zu verschaffen.
In der Zwischenzeit schreibt Pater Murphy am 12. Januar 1998 Kardinal Ratzinger einen Brief, in dem er aus verfahrenstechnischen Gründen um die Annullierung des Verfahrens gegen ihn ersucht, weil seit 1962 eine 30-Tagesfrist vorgesehen sei, innerhalb derer ab Hinterlegung der Anklage ein Strafverfahren eingeleitet werden müsse. In seinem Fall sei diese Frist um ein Vielfaches überschritten worden. Pater Murphy beteuert seine Reue, verweist darauf, schwer krank zu sein und auf jeden Fall seit 24 Jahren ein völlig zurückgezogenes Leben zu führen. Deshalb bittet er, zumindest nicht in den Laienstand versetzt zu werden, was die härteste kirchenrechtliche Bestrafung für einen Priester ist.
Am 6. April 1998 schreibt Msgr. Bertone im Namen der Glaubenskongregration an Msgr. Fliss, den Bischof von Superior und teilt „nach eingehender Prüfung“ mit, daß es keine Frist gebe, auf die sich Pater Murphy berufen könne, weshalb der Prozeß fortzusetzen sei. Msgr. Bertone fügt eine Rechtsbelehrung an und erinnert daran, daß laut Kirchenrecht eine Strafe nur dann verhängt werden solle, wenn „es nicht möglich ist, eine ausreichende Wiedergutmachung, die Wiederherstellung der Gerechtigkeit und die Besserung des Schuldigen“ auf andere Weise zu erreichen.
Msgr. Fliss teilt Msgr. Bertone am 13. Mai 1998 mit, daß im Sinne der Anweisungen der Glaubenskongregation ein Prozeß gegen Pater Murphy unumgänglich ist, wegen der Schwere der Schuld und dem großen Schmerz, der den Opfern der katholischen Gemeinschaft der St. John’s Scholl zugefügt wurde. Am 30 Mai 1998 kommt es zu einem Treffen im Vatikan zwischen Msgr. Bertone, Pater Gianfranco Girotti von der Glaubenskongregation und den am Fall beteiligten amerikanischen Bischöfen. Aus der Mitschrift geht hervor, daß es an der Glaubenskongregation Zweifel an der praktischen Durchführbarkeit eines kirchlichen Strafverfahrens gibt, wegen der Schwierigkeiten, die Ereignisse nach 35 Jahren noch ausreichend rekonstruieren zu können, vor allem was das Verbrechen im Beichtstuhl betrifft. Besprochen wird auch, daß es seit der Entfernung von Pater Murphy im Jahr 1974 keine weiteren Mißbrauchsfälle mehr durch ihn bekannt geworden sind.
Als Ergebnis des Treffens werden zwei Hauptpunkte festgehalten: Pater Murphy darf sein Priestertum nur mehr unter strengen Auflagen innerhalb der Diözese Superior ausüben. Zudem soll mit einer entschiedenen Aktion die Umkehr des Priesters erreicht werden. Dazu gehört auch die Androhung seiner Laisierung.
Der Bischof von Milwaukee informiert am 19. August Msgr. Bertone über die getroffenen Maßnahmen gegen Murphy. Zudem teilt er mit, daß seine Diözese weiterhin die Kosten für die psychotherapeutische Behandlung der Opfer tragen werde.
Am 21. August 1998 stirbt Pater Murphy und der Fall wird geschlossen.
(Avvenire/GN)