Ein Blick in die Geschichte der Kirche zeigt uns, daß Kirche immer wieder der Reform bedarf, weil das Schwergewicht der Gewohnheiten des Menschen sie immer nach unten zieht, aber daß in ihr auch immer wieder Kräfte der Reform aufbrechen, daß eine Kreativität zum Guten hin immer wieder neu da ist und daß es die Heiligen sind, die diese Kräfte der Reform in sich tragen.
Im 13. Jahrhundert waren es die Bettelorden, vor allem die Minderbrüder des heiligen Franz von Assisi und der Predigerorden des heiligen Dominikus, die eine dauerhafte und tiefgehende kirchliche Erneuerung brachten. Damals war gegen die Immobilität der großen monastischen Orden und der Hierarchie ein Aufbegehren in der Kirche lebendig, das nach der Einfachheit des Evangeliums verlangte – nach der Armut – und sich in Gegensatz zu Glanz und Größe der offiziellen Kirche setzte: Armutsbewegungen, die aber dann sogleich auch in Häresie verfielen, die Materie in einem falschen asketischen Streben ablehnten, als etwas Böses betrachteten, die schließlich davon ausgingen, daß es nicht nur Gott, sondern ein böses Prinzip gibt, weil in der Welt so viel Böses ist, das sie in der Materie verankert sahen und so mit dem guten Impuls zur Einfachheit, zur Armut, zur Strenge des Glaubens und des Lebens zerstörerisch wirkten, weil sie die Größe Gottes verminderten und die Schöpfung nicht mehr liebten.
In dieser Situation sind Gestalten wie Franz und Dominikus aufgestanden, die auch den Impuls der Armut, der Einfachheit, der Radikalität des Evangeliums in sich trugen, aber ihn in der Kirche und mit der Kirche als den wahren Ort des Evangeliums lebten und so in ihr Erneuerung schufen, die dann auch Europa erneuern und umgestalten konnte.
Für sie war es wesentlich, daß sie in der Armut des Evangeliums das Evangelium wörtlich lebten, aber daß sie es in der Gemeinschaft mit dem Papst und mit der Kirche vollbrachten und so von innen her das ganze Volk Gottes erneuert haben. Dazu gehörte dann nicht nur dieser, sagen wir, ökonomische Faktor, die Einfachheit des Lebens, die sich einer bestimmten Wirtschaftsform entgegenstellte und sie auch erneuern half, sondern vor allem die Verkündigung des Evangeliums.
Es waren große Verkündiger, die das Evangelium wieder als lebendige Kraft im 13. Jahrhundert neu zu den Menschen zu bringen vermochten und so, wie es der Wille des hl. Franz war, Volk Gottes aus der Einfachheit der Ursprünge neu sammelten. Sie waren Prediger, Beichtväter, Förderer der Frömmigkeit, und damit entstand einerseits die Radikalität derer, die sich ganz dieser Bewegung anschlossen, aber auch der Wille der anderen, mit dabei zu sein, die sogenannten Dritten Orden, Menschen, die in den Berufen der Welt lebten, aber den Geist des Evangeliums, den ihnen diese Gemeinschaften vorlebten, auch tragen wollten, in dem Wissen, daß man in jedem Stand heilig sein kann, wenn auch in verschiedenen Formen.
Dazu kam dann die neue Organisation: Es waren nicht mehr ortsfeste, stabile Gemeinschaften, sondern bewegliche, die von einem Generaloberen geleitet wurden und damit mit einer neuen Flexibilität das Wort verkünden konnten, so daß die dynamische Kraft der Mission neu erstanden ist. Und schließlich auch eine neue Dynamik der Auseinandersetzung mit den großen geistigen Problemen der Zeit. In jener Zeit sind die Universitäten entstanden, und die Bettelbrüder gehörten zu den ersten Studenten und Professoren, die mit neuer Radikalität und Kühnheit nach der Einheit von Glaube und Vernunft fragten und so zu einer neuen Blüte christlicher und menschlicher Kultur beigetragen haben. In alledem haben sie auch uns etwas zu sagen: Erneuerung der Gesellschaft kommt aus einer tiefen Begegnung mit dem Evangelium, aus der Radikalität des Lebens mit dem Evangelium, das dann sich in seiner Größe neu öffnet. Heiligkeit ist radikal gelebtes Evangelium, und wir müssen heute wieder den Mut haben, dies zu versuchen. Es gibt ja auch heute solche Bewegungen, die neue Dynamik in die Kirche hereintragen und von denen wir uns ansprechen lassen wollen.
Von Herzen grüße ich alle deutschsprachigen Teilnehmer an dieser Audienz. Der Heilige Geist helfe uns, mutig und kohärent das Evangelium zu leben und zu bezeugen. Er lasse es nie an Heiligen fehlen, die der Welt die Schönheit des Glaubens sichtbar machen und sie so für Christus gewinnen. Der Herr begleite uns alle mit seiner Liebe und gebe uns den Mut und die Kraft, das Evangelium zu lieben und zu leben.
(chiesa-cattolica/GN)