von Josef Bordat
Die Bundesrepublik Deutschland und das Grundgesetz haben Geburtstag. Das ist für die meisten Grund zur Freude, für einige ist der runde Geburtstag – immerhin schon der 60. – aber auch ein Anlaß zu fragen, ob man das Grundgesetz nicht in Rente schicken sollte. Dreh- und Angelpunkt der Auseinandersetzung ist die Menschenwürde, die in Art. 1, 1 Satz 1 GG zum Grund des Grundgesetzes wird.
1. Ein Provisorium mit Bestand
Das Grundgesetz, am 23. Mai 1949 verkündet und in Kraft getreten, gilt als Gründungssatzung der Bundesrepublik und war wie diese als Übergangslösung konzipiert. Die Mütter und Väter der verfassungsgebenden Versammlung, des Parlamentarischen Rats, wollten gerade keine Verfassung, sondern nur ein vorläufiges Dokument für die West-Zonen, denn die Teilung Deutschland zeichnete sich im Winter 1948/49 schon deutlich ab. Eine Verfassung hätte die Türen zugeschlagen, die man offen halte wollte. So mahnten die 65 Parlamentarier zur Einheit und fühlten sich berufen, auch für die zu sprechen „denen mitzuwirken versagt war“ (Präambel GG, a. F.). Als es dann dazu kam, daß Mitwirkung möglich wurde, weil die „Deutschen in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet“ (Präambel GG) hatten, war das Provisorium schon soweit etabliert, daß sich das neue Deutschland aufgrund des inzwischen obsoleten Beitrittsartikels 23 GG a. F. konstituierte. Das haben viele Menschen, zumal diejenigen, die in den neuen Bundesländern leben, nicht verstanden. Sie hatten sich eine neue Verfassung im Rahmen eines gesamtdeutschen Konstitutionsprozesses erhofft.
Die Enttäuschung darüber, einfach „nur“ dem Bestehenden beizutreten, wirkt nach. Laut einer Umfrage vom Februar 2009 des Instituts „Infratest dimap“ stimmten 77% der Westdeutschen der Aussage „Ich bin stolz auf das Grundgesetz“ zu, bei den Ostdeutschen waren es nur 65%. Und das obwohl in punkto Patriotismus der Osten dem Westen in nichts nachsteht, im Gegenteil: „Ich liebe mein Land“ behaupten 85% der West- und 86% der Ostdeutschen. Ungeachtet der Frage, ob man überhaupt auf eine Norm „stolz“ sein und gegenüber einem Land Gefühle von „Liebe“ entwickeln kann, zeigen sich in Bezug auf den Osten – bei grundsätzlicher Zufriedenheit mit Staat und System – gewisse Vorbehalte gegenüber dem Normenkatalog, der Staat und System konstituiert.
2. Prinzipien mit „Ewigkeitsgarantie“
Bei aller formellen Vorläufigkeit (nach Art. 146 gilt das Grundgesetz bis zur Ablösung durch eine Verfassung, die „von dem deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist“) enthält das Grundgesetz Artikel mit „Ewigkeitsgarantie“. Die Würde des Menschen wird für „unantastbar“ erklärt (Art. 1, 1 GG), die grundlegenden freiheitlich-demokratischen Verfassungsprinzipien (Art. 20, 1–3 GG: Demokratie, Sozialstaatlichkeit, Föderalismus, Volkssouveränität, Gewaltenteilung) gelten als „unabänderlich“ (Art. 79, 3 GG) und dürfen – sogar mit Gewalt – verteidigt werden (Art. 20, 4 GG). Es ist dieser Spagat zwischen inhaltlicher Verbindlichkeit und weitgehender formaler Offenheit mit Blick auf die 1949 völlig offene deutsche Frage, die das Grundgesetz unter den Verfassungen Europas einzigartig macht. Gerade die Kompromisslosigkeit in den Grundsätzen wie dem „Würde-Artikel“ 1 hat dazu geführt, daß viele verfassungsgebende Organe im postkommunistischen Ost-Europa nach 1989 Anleihen beim deutschen Grundgesetz nahmen. Kurzum: Die Verfassung, die eigentlich gar nicht als solche gedacht war, wurde vierzig Jahre später zum Vorbild vieler neuer Verfassungen. Ironie der Geschichte.
3. Die Zukunft des Grundgesetzes
Die Zukunft des Grundgesetzes ist offen. Zwischen „in Stein meißeln“ und „neu beschließen“ liegt das, was die Mehrheit der Verfassungsrechtler dem deutschen Volk heute ans Herz legt: das Grundgesetz „fortzuentwickeln“. Das scheint in der Tat nötig. Die neuen Medien stellen Anfragen an etablierte Freiheitskonzepte, die ihren Ursprung in einer – heute kaum mehr vorstellbaren – Zeit ohne Computer und Handy haben. Die globalen Zusammenhänge hinsichtlich Handel, Migration, Sicherheit und Umwelt konnten Ende der 1940er nicht mitbedacht werden. Und auch nicht, daß es vielleicht einmal nötig sein könnte, im Grundgesetz zu notieren: „Die Amtssprache ist deutsch“.
Eine zentrale, wenngleich sehr problematische „Fortentwicklung“ findet derzeit in Bezug auf Artikel 1, 1 GG statt, also hinsichtlich jener Norm, die die „Würde des Menschen“ für „unantastbar“ erklärt (Art. 1, 1 Satz 1 GG).
Immer wieder wird im Zusammenhang mit dem 60. Jahrestag der Grundgesetzverkündigung die besondere Bedeutung von Art. 1, 1 Satz 1 GG beschworen. Der langjährige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher ist etwa der Meinung, die darin verbriefte „Menschenwürde“ überrage alles, was Staat und System sonst noch zu (ge)bieten haben. Viele werden sich dem ohne weiteres anschließen können – ohne Wenn und Aber! Doch zugleich findet in den (bio)ethischen Debatten die Infragestellung des Kernbegriffs „Menschenwürde“ immer unverhohlener ihren Ausdruck.
4. Menschenwürde – ein schwieriges Konzept
„Menschenwürde“ teilt das Schicksal vieler Begriffe, wie z. B. Intelligenz, Liebe oder Freiheit: Dadurch, daß wir sie ständig im Munde führen, weil wir sie für wichtig halten, erhalten sie ihre Bedeutung, wobei kaum jemandem der Verwender klar sein dürfte, was eigentlich damit gemeint ist, mit Intelligenz, mit Liebe, mit Freiheit. Oder mit „Menschenwürde“.
Menschenwürde läßt sich entweder als „Verfassungslyrik“ auffassen (das entspricht einer rechtpositivistischen Haltung, wie sie vor allem im anglo-amerikanischen Raum vorherrscht) oder aber als Grund von Recht begreifen. Das ist der Weg, der mit Art. 1, 1 Satz 1 GG gegangen wurde. Mit dem Begriff „Menschenwürde“ versuchte man anzudeuten, daß sich Verfassungsrecht nicht aus sich selbst heraus rechtfertigt. Auch das Verfassungsrecht will bedacht sein und als Reflexionsfläche dient die vorrechtliche Religiosität, die sich im Bezug auf Gott, und die vorrechtliche Moralität, die sich im Bezug auf die Menschenwürde ausdrückt.
Letztlich sind es dabei die nicht hintergehbaren, weil im Gewissen wurzelnden religiösen oder nicht-religiösen Glaubensüberzeugungen („Weltanschauungen“), die überhaupt erst einen Begriff wie „Würde“ füllen, und die dringend nötig sind, um ein Rechtssystem zu etablieren (zumindest muß man ja glauben, daß es gut ist, überhaupt ein Rechtssystem zu haben – es gibt Weltanschauungen, wo das nicht der Fall ist!). Das ist die Pointe der politischen Philosophie: Zu zeigen, daß dem weltanschaulich „neutralen“ Staat schon ein riesiger Berg an Weltanschauung im Rücken liegen muß, damit er überhaupt existieren kann, weil er aus dem Rechtssystem allein die Gründe als Bedingungen für dessen Existenz nicht schaffen kann (Böckenförde). Diese Gründe stehen außen, auch wenn sie nach innen wirken. Sie ermöglichen und stabilisieren das System (Habermas). So wie der Rekurs auf Gott und die Menschenwürde.
4.1 Autonomismus oder Heteronomismus?
Menschenwürde als Grund der Grundrechte muss und kann selbst genauer begründet werden. Das kann autonomisch oder heteronomisch, in jedem Fall aber sollte es mit Rücksicht auf die Tradition geschehen: Während die Stoa, die christliche Philosophie und die rationalistische Naturrechtslehre heteronomisch argumentieren, stehen u. a. mit Augustinus’ Willensfreiheitskonzept und mit Kants Pflichtethik autonomische Deutungsvarianten der Menschenwürde zur Verfügung. Dahinter verbirgt sich ein ontologischer Streit, der die Philosophiegeschichte bewegt und belebt hat: der Streit um den Status von Werten. Die Leitfrage dieses Streits lautet: Sind Werte subjektive Präferenzen oder objektive Realitäten? Je nach Antwort gelangt man zum Autonomismus oder Heteronomismus. Sämtliche heteronomische Konzepte der Menschenwürde beruhen auf einem ethischen Wertrealismus, allen autonomischen Konzepten liegt ein subjektiver Wertbegriff zugrunde.
Das führt dann dazu, daß die heteronomische Deutung Würde als Fähigkeit des Menschen sieht, sich an diese äußeren Gegebenheiten (Werten) so zu orientieren, daß sie durch diese Ausrichtung zu verantwortlichen Persönlichkeiten werden, während die autonomische Deutung gerade darauf insistiert, daß der Mensch als das sich selbst beschränkende Wesen Würde besitzt, ja diese sich gerade durch seine Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung konstituiert. Schärfer formuliert: Während dem Menschen in der heteronomischen Deutung Würde nur dann zukommt, wenn er fähig und willens ist, sein Autonomiestreben zugunsten der Gemeinschaft nach Maßgabe ihrer geteilten Werte zu zügeln, verschafft ihm seine Unabhängigkeit in der autonomischen Deutung in jedem Fall Würde, auch wenn er die Grenzen der Gemeinschaftsordnung wissentlich und willentlich überschreitet. Hinsichtlich des Grunds der Würde kann man sagen: Eine autonome Menschenwürde käme dem Menschen aus sich heraus, qua Mensch-Sein zu, eine heteronome wird dem Menschen von außen, von oben, von Gott geschenkt.
4.2 „Unantastbar“?
Die Mütter und Väter des Grundgesetzes vertreten einen heteronomischen Ansatz, erkennbar am Gottesbezug in der Präambel, aber auch an der Absolutheit, die der Menschenwürde in ihrer Wirkung zugestanden wird. „Unantastbar“ kann nur etwas sein, was dem Zugriff des Menschen prinzipiell entzogen ist. Hier erweist sich auch der autonomische Ansatz als problematisch: Wenn dem Menschen Würde „nur“ aufgrund seines Mensch-Seins und seiner Bereitschaft zukommt, diese Würde anderen Menschen – soweit er sie als „Menschen“ ansieht – ebenfalls zuzugestehen, dann ist es auch eben jener Mensch, der dieser Würdezuschreibung eine Grenze setzen kann. Der Mensch ist zugleich Stifter, Verleiher und Enteigner der Würde. Dieser anthropozentrische Zirkel hemmt in der Praxis die universelle Entfaltung der Würde. Kants Unterscheidung zwischen Transzendentalsubjekt (homo noumenon) und empirischem Subjekt (homo phaenomenon) versucht in Anbetracht des heiklen Selbstbezugs eine Stufung einzurichten, die dem Menschen nur dann das Recht gibt, Würde zu setzen und zu nehmen, soweit er dabei als „Menschheit“, nicht jedoch, wenn er als Einzelner handelt. So klug das ist, so wenig ist es gelungen, diese Differenz durchzuhalten.
Die christliche Philosophie geht einen anderen Weg. Sie verleiht dem Menschen – und das war völlig neu, als dieser Gedanke im Zuge der Ethik Jesu auftrat – eine unveräußerliche dignitas humana, die sich direkt aus der Geschöpflichkeit und Gottebenbildlichkeit des Menschen ergibt und in der Menschwerdung Gottes eine besondere Pointe erfährt. Als Abbild des personalen Gottes ist dem Menschen personale Würde verliehen. In Christus bekräftigt Gott diese Würde des Menschen durch die größtmögliche Zuwendung des Schöpfers zum Geschöpf. Gottebenbildlichkeit ist keine Eigenschaft des Menschen, sondern seine Essenz. Sie besteht nicht in etwas, das der Mensch ist, sondern sie besteht, indem der Mensch ist. Damit ist die Würde des Menschen unveräußerlich, nicht von ihm zu trennen, weil die Gottebenbildlichkeit nicht von ihm zu trennen ist. Zugleich ist seine Würde eine dignitas aliena (Luther), eine „fremde Würde“, denn sie kommt von Gott. Anders gesagt: Die Unantastbarkeit der Würde hat einen „Preis“: Die Bindung des Menschen an Gott. Daraus erwächst seine „Verantwortung vor Gott“, auf die in der Präambel des Grundgesetzes verwiesen wird.
Heute sind wir, so scheint es zumindest, nicht mehr bereit, diesen Preis zu zahlen. In der EU-Verfassung fehlt etwa jeder Gottesbezug, auch die offene nominatio Dei, wie sie von den großen christlichen Kirchen vorgeschlagen wurde. Es ist lediglich vom „kulturellen, religiösen und humanistischen“ Erbe Europas die Rede. Ein Schelm, wer dabei an das Christentum denkt. [1]Vgl. dazu meinen Aufsatz „Menschenbild, Menschenwürde, Menschenrechte. Zur Bedeutung der christlichen Wurzeln Europas für die Grundwerte der Union“ (2005) … Continue reading
„Verantwortung vor Gott“ – das will heute keiner mehr hören. Wir verstehen uns als autonom. Letztbegründungsinstanz ist das Gewissen des Einzelnen, aus dem religiöse oder nicht-religiöse Glaubensüberzeugungen erwachsen. Das Gewissen sorgt bei der Mehrheit der Deutschen dafür, daß wir „zur Ruhe kommen“ (Wittgenstein), nicht mehr der Glaube an Gott. Das muß kein Widerspruch sein. Das Grundgesetz stammt eben aus einer Zeit, als der Glaube an Gott noch für eine Mehrheit der Deutschen gewissensbildend war. Von daher findet sich der Gottesbezug in der Präambel des Grundgesetzes wieder, den Nicht-Gläubige als „Gewissensbezug“ lesen können. Wenn jedoch die Bildung des Gewissens nur an den „Sachzwängen“ des Zeitgeistes erfolgt, steht eben doch die Unantastbarkeit der Würde auf dem Spiel, die durch den Bezug zum Absoluten in spielerischer Selbstverständlichkeit gewährleistet ist.
Ein Problem besteht darin, daß oft eine Linie vom ethischen Absolutismus zum politischen Absolutismus gezogen, mit Verweis auf historische und aktuelle Erscheinungsformen des Absolutismus als Staatsform, um den Absolutismus als Moralform zu diskreditieren. Doch nicht jeder, der an die Unveränderlichkeit bestimmter Prinzipien glaubt und dafür etwas Unveränderliches als Garanten kennt und benennt (also: sich auf Gott bezieht), ist deswegen für den Ein-Parteien-Staat oder gegen Gewaltenteilung. Es mag die „Diktatur des Relativismus“ (Papst Benedikt XVI.) stören, wenn man heute noch eine klare, unmißverständliche Position in Fragen von Menschenwürde und Lebensschutz vertritt, in diesen Fragen eben gerade keine postmoderne Flexibilität zeigt, doch die offene Gesellschaft des freiheitlich-demokratischen Staates mit einem politischen Pluralismus verlangt nur scheinbar nach einem solchen Wertrelativismus. In Wahrheit ist sie auf die Geltung absoluter Werte, wie eben jene Menschenwürde meiner Ansicht nach einer ist, zutiefst angewiesen. Daraus, daß jemand zwischen Partei A und Partei B wählen können sollte, folgt jedenfalls nicht, daß er frei sein sollte, die Würde von Mensch A zu achten und die von Mensch B nicht.
Ein weiteres Problem läßt sich darin sehen, daß es der Staat weltanschaulich „neutral“ sein soll, dies aber nicht sein kann, weil es weltanschauliche Neutralität nicht gibt. Zu meinen, daß daraus kein Problem für das Rechtssystem erwächst, weil dieses bereits weitgehend neutral („neutralst“) sei, ist also selbst weltanschaulich präjudiziert. Aber so ist das heutzutage: Säkularismus gilt als die „neutralst mögliche“, manchmal (so in Berlin) auch schon als die „neutrale Weltanschauung“, die man zu haben hat. Ein „Warum?“ verbietet sich, auch wenn sich der Säkularismus als Hintergrund für die schrittweise Infragestellung von Art. 1, 1 Satz 1 GG aufspannt.
4.3 Mensch oder Person?
Eine Aufweichung von Art. 1, 1 Satz 1 GG geschieht dabei nicht über den Begriff „Würde“, sondern über das Konzept „Mensch“, denn das geht viel leichter. „Was ist der Mensch, für den Würde gilt?“ ist die heftig diskutierte Frage. Die Anthropologie geht der Ethik voraus. Die breite Debatte um den Zeitpunkt des Lebensbeginn ist dafür ein Indiz, die Unterscheidung von „human being“ (Subjekt von Art. 1, 1 Satz 1 GG) und „human life“ (nicht Subjekt von Art. 1, 1 Satz 1 GG), die der Verfassungsrechtler Horst Dreier vornimmt, ein anderes. Neben den Begriff „Mensch“ richtet sich der Begriff „Person“ im Diskurs ein. Gemeint sind damit Menschen, die über Selbstbewußtsein verfügen, Interessen haben und Präferenzen äußern. Das alles ist Voraussetzung für autonome Selbstbestimmung. Vielfach wird deshalb von Autonomisten gefordert, „Mensch“ als „Person“ zu lesen. Damit fallen Embryonen, Föten, Babys, geistig Behinderte, Wachkomapatienten und einige andere Menschen unter den Tisch der Würde. Ihr Status hinge davon ab, was der zur Selbstbestimmung fähige Teil der Menschheit ihnen an Würde zu gewähren bereit ist. Insoweit folgt im Autonomismus aus „selbstbestimmt“ immer auch „fremdbestimmend“. Aus dem Autonomismus droht demnach eine Selbstvergötzung des Menschen zu erwachsen, soweit er eben „Person“ ist, seine Objektivierung und Verzweckung hingegen, soweit er noch nicht oder nicht mehr „Person“ ist.
Eigentlich spricht ja nichts dagegen, nach der Vereinigung von Ei- und Samenzelle im Embryo einen Menschen zu sehen, dem Würde und Lebensrecht zukommen. Wir wissen doch, daß der gerade gezeugte Mensch alles hat, was es braucht, um ein Mensch zu werden, und der Mensch alles hat, um Person zu werden. Das sagt nicht nur die katholische Kirche vom vermeintlich hohen Ross ewiger religiöser Wahrheiten, sondern auch zahlreiche Wissenschaftler und Ethiker. Und die Genforschung, die den Nachweis erbrachte, daß bereits zum Zeitpunkt der Zeugung das gesamte Genmaterial vorliegt und sich dieses danach lediglich phänotypisch entfaltet, gibt der Kirche in einer ihrer uralten Vermutungen Recht: Der Mensch ist von Beginn an in potentia angelegt und sollte dementsprechend von Beginn an als ein Wesen angesehen werden, das mit der unantastbaren Würde ausgestattet ist, von der Art. 1, 1 Satz 1 GG spricht. Es gibt keine Grundlage, eine moralische und rechtliche Abstufung vorzunehmen, in deren Folge bestimmtes „human life“ von Würde und Lebensschutz erst einmal auszunehmen und dann – in einem Akt menschlich-personaler Gnade – von Fall zu Fall zuzubilligen sei. Das sieht (bisher) auch das Bundesverfassungsgericht so. Das „Recht auf Leben wird jedem gewährleistet, der ‚lebt‘; zwischen einzelnen Abschnitten des sich entwickelnden Lebens vor der Geburt oder zwischen ungeborenem und geborenem Leben kann hier kein Unterschied gemacht werden“ [2]Urteil des BVerfG vom 25.02.1975, AZ 1 BvF 1/74 u.a. [BVerfGE 39, 1, veröffentlicht in: NJW 1975, 573], denn das Grundgesetz enthalte keine „dem Entwicklungsprozeß der Schwangerschaft folgenden Abstufungen des Lebensrechts“ [3]Urteil des BVerfG vom 28.05.1993, AZ 2 BvF 2/90 u.a. [BVerfGE 88, 203, veröffentlicht in: NJW 1993, 1751]. Art. 1, 1, Satz 1 GG muß demnach so gelesen werden: „Die Würde des menschlichen Lebens ist unantastbar.“ Damit sollten eigentlich alle Zweifel beseitigt sein, wie der Begriff „Menschenwürde“ zu einer ernsten Verwendungspraxis (zurück)geführt werden kann. Und auch, wie man ihn durch „Fortentwicklung“ der Bedeutungslosigkeit ausliefert.
5. Achtung und Schutz der Menschenwürde – manchmal ein Widerspruch?
Diese „Würde des menschlichen Lebens“ ist der Staat „zu achten und zu schützen“ verpflichtet (Art. 1, 1 Satz 2 GG). Daraus – aus der doppelten Aufgabe von Achtung und Schutz – kann ein Dilemma in den Fällen entstehen, in denen jeweils eine der beiden staatlichen Pflichten nur dadurch erfüllbar zu sein scheint, daß die andere vernachläßigt oder gar verletzt wird.
Dreier betont, zuletzt in einem Interview mit der Berliner Tageszeitung TAZ, daß es Szenarien gebe, für die er keine Möglichkeit sehe, grundsätzlich zu einer fallunabhängigen Entscheidung für entweder „Achtung“ oder aber „Schutz“ zu gelangen. Im Fall der Entführung eines Menschen, bei der ein Täter gefaßt werden konnte, der weiß, wo sich der Entführte befindet, müsse demnach von Fall zu Fall über das Foltern des Täters nachgedacht werden. Eine grundsätzliche Absage an Folter als Instrument des Staates könne es für solche Fälle nicht geben, da der Auftrag zur „Würdeachtung“ (im Verhältnis zum Täter) gegen den Auftrag zum „Würdeschutz“ (gegenüber dem Opfer) stünde.
Diese „Rettungsfolter“ wird heiß diskutiert. Unstreitig zwischen den Teilnehmern der Debatte ist wohl nur, daß es sowohl im Bereich der Würde des Menschen liegt, nicht gefoltert zu werden, als auch nicht in einem Kellerraum oder Erdloch zu verdursten. Genau durch diese Einsicht ergibt sich ja das konfliktträchtige „Würde-gegen-Würde“-Dilemma. Auch reicht es nicht, soviel ist klar, darauf hinzuweisen, daß in Art. 1, 1 Satz 2 GG „zu achten“ vor „zu schützen“ steht. Daraus allein ergibt sich wohl kein Vorrang der Achtung vor dem Schutz. Und: Es ergibt sich aus der „Wenn-dann“-Logik der „Rettungsfolter“ das grundsätzliche Problem konsequentialistischer Argumente, daß nämlich kein Mensch in die Zukunft blicken kann, um zu bestätigen, daß die in Aussicht gestellten Folgen auch die tatsächlichen und alleinigen sein werden. Auch das ist allen klar.
Was allerdings in der Debatte erstaunlich oft übersehen wird, das ist der ethisch relevante Unterschied zwischen „Handeln“ und „Unterlassen“, auf den Robert Spaemann verweist. Grundsätzlich sind Unterlassungsfolgen schlechter prognostizierbar als Handlungsfolgen. Man kann sehr genau sagen, was mit dem Täter passiert, wenn er gefoltert (wenn also „gehandelt“) wird, nämlich, daß der Staat dessen Würde verletzt, also seiner Achtungsverpflichtung nicht nachkommt. Man kann aber nicht genau sagen, was mit dem Opfer passiert, wenn es unterlassen wird, den Täter zu foltern. Es kann sich jederzeit eine neue Lage ergeben, in der die staatliche Gewalt zum Schutz des Opfers befähigt wird, ohne gefoltert zu haben, sei es, daß der Täter „freiwillig“ einknickt und aussagt, sei es, daß sich das Opfer befreien kann oder daß es im Rahmen der „herkömmlichen“ Polizeiarbeit gefunden wird.
Mehr noch: Man kann nicht einmal sagen, was mit dem Opfer passiert, wenn der Täter gefoltert wird, denn der Erfolg der Folter des Täters mit Blick auf die Lage des Opfers ist sehr ungewiß. Daß auch dieses Argument so wenig Beachtung findet, verwundert sehr, weiß man doch seit Friedrich von Spees „Cautio criminalis“ (1631), daß Folter schon allein aufgrund der zweifelhaften Aussichten auf Erfolg abzulehnen ist, also wegen der zum Zeitpunkt der Folter nicht beantwortbaren Frage, ob man durch sie wirklich der Wahrheit näher kommt. Spee hält Folter zwar auch für moralisch verwerflich („Kein deutscher Edelmann würde ertragen können, daßs man seinen Jagdhund so zerfleischte. Wer soll es da mit ansehen können, daß ein Mensch so vielmals zerrissen wird?“), doch zunächst für juristisch untauglich, weil sie in der Rechtspraxis zur fehlerhaften Beweisaufnahme führe. Auch wenn wir heute eher mit Ethik als mit Pragmatik argumentieren, ergänzt diese Sicht der Frühen Neuzeit doch gut die Überlegungen zur Menschenwürde, die im Entführungsfall anzustellen sind.
Für die „Achtung-Schutz“-Kollision bedeutet das zusammengefaßt: Wird im Fall der Folter eines Entführers in jedem Fall die Würde des Gefolterten mißachtet, so steht die Schutz-Wirkung in Bezug auf das Entführungsopfer aus. Sie tritt möglicherweise ein, sie tritt u. U. sogar mit einer hohen Wahrscheinlichkeit ein, doch es ist eben nicht sicher, ob sich durch die Folter neue, verwertbare Erkenntnisse ergeben, die dem Schutz des Opfers dienen und die ohne Folter nicht zu erlangen gewesen wären. Sicher ist im Zusammenhang mit Folter nur, daß die Würde des Gefolterten verletzt wird – mehr nicht. Insoweit ist der Folter eine klare Absage zu erteilen. Das sind wir dem Grundgesetz und denen, die es erarbeitet haben, schuldig, denn die Menschenwürde ist ein Stück Ewigkeit im Provisorium. Wir sind es nicht zuletzt auch Friedrich von Spee schuldig, der angesichts der Folterpraxis in den deutschen Landen „Bäche von Tränen“ vergoß und dessen harsche Kritik an der staatlichen Gewalt seiner Zeit („Wehe den Fürsten und zweimal wehe den Fürsten!“) uns Mahnung und Warnung sein sollte.
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↑1 | Vgl. dazu meinen Aufsatz „Menschenbild, Menschenwürde, Menschenrechte. Zur Bedeutung der christlichen Wurzeln Europas für die Grundwerte der Union“ (2005) https://books.google.de/books?id=8EIRC4yxPDEC&pg=PA85&dq=%22Josef+Bordat |
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↑2 | Urteil des BVerfG vom 25.02.1975, AZ 1 BvF 1/74 u.a. [BVerfGE 39, 1, veröffentlicht in: NJW 1975, 573] |
↑3 | Urteil des BVerfG vom 28.05.1993, AZ 2 BvF 2/90 u.a. [BVerfGE 88, 203, veröffentlicht in: NJW 1993, 1751] |