(Moskau) Der Anfang August verstorbene russische Schriftsteller Alexander Solschenizyn, Symbolfigur der Regimekritiker des Sowjetkommunismus, wurde am 6. August auf eigenen Wunsch im Donskoi-Kloster bei Moskau beigesetzt. Dieser Wunsch erstaunte, da auf dem Friedhof des 1991 in Kirchenbesitz zurückgegebenen Klosters keine Beerdigungen mehr stattfinden. Solschenizyn hatte den Moskauer Patriarchen Alexej II. persönlich um eine Sondererlaubnis gebeten. Die italienische Tageszeitung Avvenire ging der Frage nach und meint die Antwort gefunden zu haben. Solschenizyn wollte seine letzte Ruhestätte an einem heiligen Ort finden, vor allem aber an der Seite von tausenden Opfern der kommunistischen Gewaltherrschaft, die wie jene gelitten hatten, die der Autor des „Archipel Gulag“ in seinen Büchern beschrieb.
Der nach der gleichnamigen Ikone benannte Wallfahrtsort ist ein bedeutendes Zentrum der russisch-orthodoxen Kirche. Auf dem Gelände wurden von den Kommunisten tausende Regimegegner hingerichtet und in Krematorien verbrannt. Solschenizyn scheint als letzte Ruhestätte bewußt einen Ort gewählt zu haben, an dem sich die Geschichte Rußlands auf dramatische Weise widerspiegelt, wo die alte Größe und die Schrecken eines menschenverachtenden Regimes zusammenprallen.
Das heutige Mönchskloster wurde im 16. Jahrhundert zum Dank an einen Sieg über die Krimtartaren erbaut und beherbergt die bekannte Donskaja-Ikone. In Erinnerung an einen anderen Sieg, wählte Zar Fjodor I. als Kirchenpatronin die „Gottesmutter vom Don“. Der russische Großfürst Dimitri Donskoi hatte 1390 am Don die Mongolen besiegt. Seither gilt er als Vorkämpfer der nationalen Einheit Rußlands. Sein Sieg wurde der der wundertätigen Hilfe der Donskaja-Ikone der Gottesmutter Maria zugeschrieben. Der Friedhof auf dem Klostergelände wurde zur Ruhestätte zahlreicher russischer Dichter und Schriftsteller.
Sofort nach der Oktoberrevolution begann die Kirchenverfolgung. In den ersten Jahren der kommunistischen Gewaltherrschaft wurde der regimekritische Moskauer Patriarch Tichon unter Hausarrest in das Kloster verbannt, wo er auch begraben wurde. Nach seinem Tod wurde das offiziell bereits 1917 aufgehobene Kloster tatsächlich geschlossen. Die Klostergebäude einschließlich Klosterkirche wurden zweckentfremdet und zu einem Ort des Schreckens. Auf dem Klostergelände wurden nach dem Ende des Sowjetregimes mehrere Massengräber gefunden. Die Asche von tausenden Opfern der kommunistischen Herrschaft sind dort vergraben worden, berichtet die Moskauer Tageszeitung Moskovskij Komsomolets.
Vor dem Ersten Weltkrieg hatte das Kloster auf dem sogenannten „Neuen Friedhof“ mit dem Bau einer Kirche begonnen, die dem hl. Seraphim von Sarow geweiht war. Wegen der kommunistischen Machtergreifung konnte sie nicht fertiggestellt werden. 1927 wurde sie umgebaut und in ihrem Inneren die Krematoriumsöfen errichtet, in denen die Leichen der sogenannten „Volksfeinde“, die vom NKVD (dem Vorgänger des KGB) massenweise hingerichtet wurden.
Ab 1930 „begann ein regelrechtes Fließband des Todes zu funktionieren“, schreibt Moskovskij Komsomolets. „Die Körper der in den Verliesen der Lubjanka (Sitz des NKVD) und an anderen Orten Ermordeten, wurden nachts auf Lastwagen in das ehemalige Kloster gebracht. Von den Schornsteinen der Krematorien stieg die ganze Nacht schwarzer Rauch auf“, heißt es in der Zeitung weiter. „Die am Morgen in den Krematorien zurückbleibende Asche von Dutzenden oder Hunderten ‚Konterrevolutionären‘ wurde auf dem Friedhof des Klosters in ein eigens ausgehobenes, großes Massengrab gekippt. Sobald es gefüllt war, wurde es zugedeckt und von den Bürokraten mit einer kleinen Holztafel mit der Aufschrift ‚Sammelgrab Nr. 1 der von Angehörigen nicht angefragten Leichen 1930–1942“ gekennzeichnet.“ Es folgten bald die Massengräber Nr. 2, Nr. 3 usw.
Auf dem Klostergelände wurde aber noch ein weiteres Massengrab gefunden, in dem die Asche der nach 1945 ermordeten und verbrannten „antisowjetischen Elemente“ abgelagert wurde. Diese „geheimen Operationen“ wurden laut Moskovskij Komsomolets bis 1953 in großem Stil bis zum Tod Stalins fortgesetzt. Die genaue Zahl der in den Krematorien verbrannten Personen ist nicht bekannt. Laut den Verwaltungsbüchern des Komplexes wurden allein zwischen 1937 und 1941 die Leichen von 4500 Ermordeten in den Krematoriumsöfen „behandelt“, wie es in der Bürokratensprache hieß. Die Gesamtzahl der im Donskoi-Komplex kremierten Regimegegner wird nach Angaben der Forscher von Memorial auf mehr als 13.000 geschätzt. Hinzu kommen noch ehemalige Anhänger des Regimes, die den Säuberungen zum Opfer fielen. Zu ihnen gehörte auch Nikolai Jeschow, von 1936–1938 selbst Leiter der sowjetischen Geheimpolizei NKWD und damit „Herr“ über den Donskoi-Komplex. Er führte die „große Säuberung“ durch, die mehr als einer Million Menschen das Leben kostete. Schließlich fiel er selber dem enormen Tötungsapparat zum Opfer, den er mit aufgebaut hatte.
Der Donskoi-Komplex ist aber längst nicht der einzige Ort des Schreckens in Moskau. Wie in jedem Jahr seit dem Ende der Sowjetherrschaft, zelebrierte der Moskauer Patriarch Alexej II. auch am diesjährigen 31. Mai ein Requiem auf dem ehemaligen NKWD-KGB-Schießstand von Butowo. Dort wurden in Massengräbern mehrere zehntausend Menschen verscharrt. Unter ihnen befinden sich auch viele Priester. Der Patriarch bezeichnete Butowo als einen „heiligen und tragischen Ort. Heilig, weil hier die Reliquien von Heiligen ruhen. Und tragisch, weil hier Menschen als Märtyrer starben, von denen wir nicht einmal den Namen kennen.“ Insgesamt wurden in Butowo bisher 13 Massengräber gefunden, in denen die Überreste von etwa 100.000 Menschen liegen. Nach Archivangaben des FSB, des heutigen KGB-Nachfolgers, wurden in Butowo allein zwischen August 1937 und Oktober 1938 20.765 Menschen als „Volksfeinde“ erschossen. Unter den Ermordeten befanden sich auch 939 Priester. Über 200 von ihnen wurden von der orthodoxen Kirche inzwischen kanonisiert. Unter ihnen ist vor allem der 1997 zu den Altären erhobene Metropolit von St. Petersburg (damals Leningrad), Seraphim Tschitschagow, der 1937 gemeinsam mit weiteren sechs Bischöfen in Butowo hingerichtet wurde.
(Avvenire/JF)