(Rom) Man könnte höflich schreiben oder zumindest relativierend, darüber hinwegsehend, doch besteht kein Anlaß dafür. Es wäre eine falsche Höflichkeit. Am vergangenen Sonntag abend trat Günter Grass, seines Zeichens Literaturnobelpreisträger, im italienischen Staatsfernsehen RAI auf. Er war Gast der Sendung „Che tempo che fa“ des durchaus sympathischen, wenn auch unverhohlen linkslastigen Moderators Fabio Fazio. Im Mittelpunkt stand der 2006 von Grass veröffentlichte Roman „Beim Häuten der Zwiebel“.
Grass konnte es sich – ganz Überzeugungstäter – nicht verkneifen, jenes romanhafte Geschichtchen zu wiederholen, das bereits seinerzeit bei der aufsehenerregenden Buchvorstellung im Feuilleton der FAZ ebenso unsympathisch wie aufdringlich wirkte. Im selben Atemzug, mit dem er seine SS-Vergangenheit auf jene sachliche Weise darstellte, die er anderen stets verweigert hatte, gab er jene angebliche Begegnung in einem amerikanischen Kriegsgefangenenlager mit einem „Josef aus Bayern“ zum Besten. Grass wörtlich: „Ich war katholisch aufgewachsen, hatte jedoch früh den Glauben verloren“. In diesem „riesigen Lager“ habe ein anderer junger deutscher Kriegsgefangener ihn „zu bekehren versucht, mit einer leisen, etwas säuselnden Stimme und einem Hang zum Fanatismus“. Und siehe da, nun fällt es dem Schriftsteller 60 Jahre später wie Schuppen von den Augen: „Ich schrieb das Buch, da kam gerade die Nachricht von der Wahl Joseph Ratzingers zum Papst. Als ich seine Stimme hörte, diese „leise, etwas säuselnde Stimme und diesen Hang zum konservativen Fanatismus dachte ich mir, das könnte jener Josef im Lager gewesen sein.“
Was will Grass seit bald zwei Jahren damit sagen? Es dürfte außer Diskussion stehen, daß Grass diese Lagerepisode – ganz Romancier – schlichtweg erfunden hat, zumindest was Joseph Ratzinger betrifft. Er selbst läßt dies ausreichend deutlich erkennen. Die Wahl von Papst Benedikt XVI. scheint dem gerade an seinem Buch feilenden Autor zu dieser Passage angeregt zu haben. Die nötige Phantasie ist ihm nicht abzusprechen. Damit erwies er sich auch als geschickter Werbestratege.
Der kleine Marketingtrick ist jedoch nur ein Aspekt. Grass, die fiktive „moralische Instanz“ Nachkriegsdeutschlands enthüllte, Angehöriger der Waffen-SS gewesen zu sein, was er bisher verschwiegen hatte. Möglicherweise war auch diese Selbstoffenbarung Teil einer Marketingstrategie. Auf alle Fälle wußte er, daß sie eine öffentliche Diskussion auslösen würde. Indem er den neugewählten Papst als tatsächlicher moralischer Instanz gewissermaßen mit ins gleiche Boot zu ziehen versuchte (beide irgendwie im Krieg, beide im selben Kriegsgefangenenlager, suggeriertes gleiches Schicksal, obwohl die Biographien bereits damals höchst verschieden waren), suchte er wohl auch Schutz für sich selbst. Das FAZ-Feuilleton mit seiner Exklusivpräsentation half bei dieser Absicht tatkräftig mit. Neben der aufsehenerregenden Schlagzeile: „Ich war Mitglied der Waffen-SS“ wurde nicht etwa ein Foto von Grass in SS-Uniform abgedruckt, sondern das von Joseph Ratzinger, der nie in der SS war, sondern zwangsverpflichteter Hilfswilliger der Flak. Ein Schuft, wer Böses dabei denkt? Wohl kaum, wenn man weiß, wie „heiß“ diese Exklusivgeschichte für die FAZ gewesen sein muß und wie bewußt Titel und Bilder ausgewählt werden. Der Papst sollte zum „Weißwaschen“ von Grass’ Vergangenheit herhalten oder den vorhersehbaren Sturm auf ihn zumindest etwas abmildern. Was für Grass Schutz sein sollte, mußte umgekehrt für den Papst jedoch Schmutz bedeuten. Wer erinnert sich nicht an die unappetitlichen Untergriffe eines Teils der britischen Presse, die den Papst in NS-Nähe zu rücken versuchte. Diesen zumindest potentiell negativen Effekt für den neuen Papst scheint der antiklerikale Grass, ganz Egomane, nicht nur billigend in Kauf genommen zu haben.
Sein Auftritt zur besten Sendezeit auf RAI 3, dem ehemals kommunistischen Kanal des staatlichen Fernsehens, zeigte, daß es sich 2006 keineswegs um einen einmaligen Ausrutscher handelte. Heute braucht der Schriftsteller sicher keinen Schutz mehr. Grass wurde nicht zur Unperson, einem Status, zu dem er fleißig anderen „verholfen“ hatte. Der offizielle Kulturbetrieb blieb ihm gewogen und behandelte ihn auch weiterhin mit allen Ehren und trotz seiner SS-Vergangenheit zuvorkommend und milde. Grass ging also als antiklerikaler Botschafter nach Italien, um die Italiener endlich aufzuklären, wer dieser Papst sei: nämlich „ein Fanatiker“. Grass schien dabei sichtlich davon überzeugt, seinen Seitenhieb auf besonders gekonnt, subtile Weise angebracht zu haben. Dabei hatte er mit seiner teutonischen Humorlosigkeit und seiner Realitätsferne den Charme einer Axt auf einem Klotz. Unweigerlich fühlte man sich an eine andere Grass-Aussage erinnert. Er hatte den Vorschlag gemacht als „eine große Geste“, eine Kirche in Lübeck in eine Moschee umzuwandeln, um damit die Bewerbung als Weltkulturhauptstadt zu fördern. Dies zu einem Zeitpunkt, da es in Deutschland bereits mehr als 2000 islamische Gebetsstätten gibt. Gleichzeitig dafür in einem islamischen Land die Umwandlung einer Moschee in eine Kirche anzuregen, kam ihm natürlich nicht in den Sinn. Der Vorstoß offenbarte daher weniger eine islamfreundliche, sondern vielmehr eine tiefsitzende antichristliche und antieuropäische Haltung.
Fazio meinte jedenfalls am Ende der Sendung, es sei „eine Ehre gewesen“, Grass zu Gast zu haben. Ehre machte Grass mit seinem Auftritt allerdings weder sich noch Deutschland, nicht einmal in einem linkslastigen Kontext wie Fazios Fernsehsendung, selbst wenn das Publikum am Ende artig applaudierte, weil die entsprechende Regieanweisung im Studio aufleuchtete.
(Giuseppe Nardi)