„Der Mensch will nicht glücklich sein.“ Dieser Satz ist ein Schlag ins Gesicht aller Glückspropheten.
Der diesen ungeheuren Satz ausspricht, hat durch die Nationalsozialisten Familie und Frau verloren und selber vier Konzentrationslager überlebt. Er mußte bei der Selektion auf der Rampe von Auschwitz seinen Mantel hergeben, in dessen Futter er sorgsam das Manuskript seines ersten Buches eingenäht hatte. An Fleckfieber erkrankt und vom Gefäßkollaps bedroht, rekonstruierte er nachts in der Lagerbaracke stenographisch sein Erstlingswerk - Ärztliche Seelsorge – mit einem Bleistiftstummel auf SS-Formularen, die ihm ein Mithäftling zum 40. Geburtstag geschenkt hatte. Als einziger Überlebender der Familie kehrte er in seine Heimatstadt zurück. Er stürzte sich in die Arbeit und schuf in den folgenden Jahrzehnten sein Lebenswerk. Es umfaßt u. a. 32 Bücher – übersetzt in 26 Sprachen – von denen eines laut Library of Congress in Washington zu den zehn einflußreichsten Büchern in Amerika zählt und Pflichtlektüre vieler Colleges ist.
Der Schöpfer dieses beeindruckenden Werkes ist Viktor Emil Frankl.
Am 26. März 1905 in Wien als zweiter Sohn jüdischer Eltern geboren, wächst er mit dem älteren Bruder Walter und der jüngeren Schwester Stella heran – behütet von einer „seelenguten und herzensfrommen“ Mutter und einem spartanisch-stoischen Vater, den die Kinder als Personifikation von Gerechtigkeit und Geborgenheit erleben.
Schon auf der Mittelschule wandelt sich Frankls kindlicher Berufswunsch „Arzt“ unter dem Eindruck psychoanalytischer Lektüre zum Ziel, Psychiater zu werden. Als Gymnasiast beginnt er eine intensive Korrespondenz mit dem Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud. Diese gipfelt 1924 in der Publikation eines Artikels in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse – zu einem Zeitpunkt, da Frankl sich bereits der Individualpsychologie Alfred Adlers zugewandt hat. Doch ebenso wenig wie Freuds „Wille zur Lust“ kann Adlers „Wille zur Macht“ als postulierte menschliche Grundintention Frankl zufriedenstellen. Er entkommt durch Lektüre von Schelers Werken der Falle von Determinismus und Psychologismus und entwickelt ab 1929 die „Dritte Wiener Schule der Psychotherapie“: die Logotherapie.
Von Anfang an verquickt er dabei Theorie und Praxis: Ab 1929 praktiziert er die logotherapeutische Technik der Paradoxen Intention und die existenzanalytische Methode des gemeinsamen Nenners. Er initiiert eine kostenlose Jugendberatung in Wien und sechs anderen Städten und übernimmt zusätzlich die Organisation der selbstmordverhütenden „Zeugnisberatung“. Nach Promotion und klinischer Ausbildung eröffnet er 1937 eine Privatpraxis für Neurologie und Psychiatrie, die er jedoch nach dem „Anschluß“ Österreichs an das Deutsche Reich bereits ein Jahr später schließen muß. Als Leiter der Neurologischen Abteilung des Rothschildspitals sabotiert er mittels „geschickter“ Diagnoseformulierung das Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten und rettet so zahlreiche jüdische Geisteskranke vor dem sicheren Tod. Das heißersehnte Ausreisevisum in die USA läßt er verfallen, um den „Transportschutz“ der Eltern durch seine weitere ärztliche Tätigkeit aufrechtzuerhalten. In dieser Zeit heiratet er die Krankenschwester Tilly Grosser, die 1945 kurz nach der Befreiung durch englische Truppen im KZ Bergen-Belsen stirbt.
Frankl selbst bezeichnet seine drei Jahre in den vier Konzentrationslagern Theresienstadt, Auschwitz, Kaufering III und Türkheim als „experimentum crucis“: „Die eigentlich menschlichen Urvermögen der Selbst-Transzendenz und Selbst-Distanzierung, wie ich sie in den letzten Jahren so sehr betone, wurden im Konzentrationslager existentiell verifiziert und validiert.“ (Lebenserinnerungen) Ihren literarischen Niederschlag finden diese Erfahrungen im Buch …trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das KZ.
Die Zeit nach 1945 ist für Frankl persönlich und beruflich erfolgreich und erfüllend. 1947 heiratet er die Krankenschwester Eleonore Katharina Schwindt, genannt Elli. Er wird Vater und Großvater, pflegt bis zum 80. Lebensjahr seine Kletter-Leidenschaft, erwirbt mit 67 Jahren eine Fluglizenz; er plaudert mit einer amerikanischen Präsidentenwitwe und einem habsburgischen Kaisersohn und wird gemeinsam mit seiner Frau zu einer Privataudienz bei Papst Paul VI. geladen. Über deren ergreifendes Ende berichtet er in den Lebenserinnerungen: „Als er (Papst Paul VI.) uns verabschiedete, und wir uns zurückzogen bzw. dem Ausgang zustrebten, begann er plötzlich wieder deutsch zu sprechen und er rief mir nach, mir, dem jüdischen Neurologen aus Wien, wörtlich: ‚Bitte, beten Sie für mich!‘ “
Im März 1988 hält Frankl (50 Jahre nach dem „Anschluß“) auf dem Wiener Rathausplatz eine bemerkenswerte Rede, in der er, der KZ-Häftling „Nummer 119 104″, die Idee einer „Kollektivschuld“ scharf verurteilt.
Beruflich erfährt Frankl zu seinen Lebzeiten, wie sich die Logotherapie von Wien aus in der ganzen Welt ausbreitet. Er entfaltet eine rege Reise- und Vortragstätigkeit, die ihn rund um den Globus führt. Besonders wohlwollende Aufnahme findet die Logotherapie in Nord- und Südamerika. So hat Frankl – neben seiner Professur für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Wien – Professuren an mehren amerikanischen Universitäten inne, u. a. an der Harvard University. Die U.S. International University in San Diego / Kalifornien errichtet eigens für Frankl eine Professur für Logotherapie. 25 Jahre lang ist er Vorstand der Wiener Neurologischen Poliklinik. 1995 – mit 90 Jahren – hält er seine letzte Vorlesung an der Universität seiner Heimatstadt. Im Alter von 92 Jahren stirbt er am 2. September 1997 an Herzversagen.
Das Denkgebäude der von Frankl entwickelten Logotherapie ruht auf drei Säulen: Freiheit des Willens – Wille zum Sinn – Sinn des Lebens.
Aus der „Freiheit des Willens“ resultiert die Verantwortung des Menschen. Dazu schreibt Frankl in der Ärztlichen Seelsorge: „Was ist nun Verantwortung? Verantwortung ist dasjenige, wozu man ‚gezogen‘ wird, und – dem man sich ‚entzieht‘… Sobald wir uns in das Wesen menschlicher Verantwortung vertiefen, erschauern wir: es ist etwas Furchtbares um die Verantwortung des Menschen – doch zugleich etwas Herrliches! Furchtbar ist es: zu wissen, daß ich in jedem Augenblick die Verantwortung trage für den nächsten; daß jede Entscheidung, die kleinste wie die größte, eine Entscheidung ist ‚für alle Ewigkeit‘; daß ich in jedem Augenblick eine Möglichkeit, die Möglichkeit eben des einen Augenblicks, verwirkliche oder verwirke… Doch herrlich ist es: zu wissen, daß die Zukunft, meine eigene und mit ihr die Zukunft der Dinge, der Menschen um mich, irgendwie – wenn auch in noch so geringem Maße – abhängig ist von meiner Entscheidung in jedem Augenblick. Was ich durch sie verwirkliche, was ich durch sie ‚in die Welt schaffe‘, das rette ich in die Wirklichkeit hinein und bewahre es so vor der Vergänglichkeit.“
Weiter heißt es dort, daß zum dialektischen Charakter des Menschen „seine ewige Unabgeschlossenheit und Sich-selbst-Aufgegebenheit gehören: seine Wirklichkeit ist eine Möglichkeit, und sein Sein ist ein Können. Niemals geht der Mensch in seiner Faktizität auf. Mensch-sein – so könnten wir sagen – heißt nicht faktisch, sondern fakultativ sein!“
Der „Wille zum Sinn“, die zweite Säule der Logotherapie, ist nach Frankl die zentrale Grundintention des Menschen. Allerdings warnt er in der „Ärztlichen Seelsorge“ davor, dieses Postulat voluntaristisch mißzuverstehen: „Die Idee eines Willens zum Sinn darf nicht im Sinne eines Appells an den Willen mißdeutet werden. Glaube, Liebe, Hoffnung lassen sich nicht manipulieren und fabrizieren. Niemand kann sie befehlen. Selbst dem Zugriff des eigenen Willens entziehen sie sich. Ich kann nicht glauben wollen, ich kann nicht lieben wollen, ich kann nicht hoffen wollen – und vor allem kann ich nicht wollen wollen. Darum ist es müßig, einen Menschen aufzufordern, ‚den Sinn zu wollen‘. An den Willen zum Sinn appellieren heißt vielmehr den Sinn selbst aufleuchten lassen – und es dem Willen überlassen, ihn zu wollen.“
Ein Verdienst der Logotherapie ist der Hinweis, „daß der Mensch nicht nur – kraft seines Willens zum Sinn – nach einem Sinn sucht, sondern daß er ihn auch findet, und zwar auf drei Wegen: Zunächst einmal sieht er einen Sinn darin, etwas zu tun oder zu schaffen. Darüber hinaus sieht er einen Sinn darin, etwas zu erleben, jemanden zu lieben; aber auch noch in einer hoffnungslosen Situation, der er hilflos gegenübersteht, sieht er unter Umständen einen Sinn. Worauf es ankommt, ist die Haltung und Einstellung, mit der er einem unvermeidlichen und unabänderlichen Schicksal begegnet. Die Haltung und Einstellung verstattet ihm, Zeugnis abzulegen von etwas, dessen der Mensch allein fähig ist: das Leiden in eine Leistung umzugestalten.“ (Der Wille zum Sinn)
Frankl entwickelt so die drei Wertkategorien schöpferische Werte, Erlebniswerte und Einstellungswerte, in deren Hierarchie er letzteren den höchsten Rang zuweist.
Die dritte Säule der Logotherapie verweist auf den je einzigartigen „Sinn des Lebens“. Hier vollzieht Frankl einen radikalen Perspektivenwechsel, den er in seinem Buch Der unbewußste Gott wie folgt beschreibt: „Wir bemühten uns darum, den Aufgabencharakter des Lebens aufzuzeigen, mit ihm aber zugleich den Antwortcharakter des Daseins: Nicht der Mensch sei es, so erklärten wir, der die Frage nach dem Sinn des Lebens zu stellen habe, vielmehr sei es umgekehrt so, daß der Mensch selber der Befragte ist; daß er selber zu antworten hat; daß er die jeweiligen Fragen, die sein Leben an ihn stellt, zu beantworten hat; nur daß solche Beantwortung immer eine Beantwortung ‚in der Tat‘ ist: Nur im Handeln lassen sich die ‚Lebens-Fragen‘ wahrhaft beantworten – ihre Beantwortung erfolgt in der Verantwortung je unseres Daseins. Ja, ‚unser‘ ist das Dasein überhaupt nur, soweit es verantwortetes Dasein ist.“
Hier – beim Aufgabencharakter des Lebens – wirft Frankl einen Blick als Psychotherapeut über die Grenzen seines Faches hinaus auf das weite Feld der Religion. Er schreibt dazu in der Ärztlichen Seelsorge: „Die Aufgabe, die ein Mensch im Leben zu erfüllen hat, ist also grundsätzlich immer da und niemals prinzipiell unerfüllbar… Während der seiner Verantwortung nicht bewußte Mensch das Leben als eine bloße Gegebenheit hinnimmt, lehrt die Existenzanalyse, das Leben in seiner Aufgegebenheit sehen. Hierzu müssen wir aber folgendes bemerken: Es gibt Menschen, die einen Schritt weiter gehen, das Leben gleichsam in einer weiteren Dimension erleben. Für sie ist Aufgabe sozusagen etwas Transitives: Sie erleben gleichzeitig eine Instanz, von der die Aufgabe kommt, sie erleben jene Instanz hinzu, welche die Aufgabe stellt. Sie erleben die Aufgabe als Auftrag. Das Leben erscheint dann in der Transparenz auf einen transzendenten Auftraggeber hin. Damit wäre unseres Erachtens ein Wesenszug des homo religiosus umrissen; als eines Menschen, für dessen Bewußtsein und Verantwortlichsein mit dem Lebensauftrag der Auftraggeber mitgegeben ist.“
Und weiter dann: „Derselbe Instinkt nun, der – wie wir gesehen haben – den Menschen zu seinen eigensten Aufgaben hinführt, leitet ihn auch bei der Beantwortung der Lebensfragen, in der Verantwortung seines Lebens. Dieser Instinkt ist das Gewissen. Das Gewissen hat seine ‚Stimme‘ und ’spricht‘ zu uns – ein unleugbarer phänomenaler Tatbestand. Das Sprechen des Gewissens ist jedoch jeweils ein Antworten. Hier erweist sich der religiöse Mensch psychologisch gesehen als einer, der zum Gesprochenen den Sprecher hinzu erlebt, also gleichsam hellhöriger ist als der Nichtreligiöse: In der Zwiesprache mit seinem Gewissen – in diesem intimsten Selbstgespräch, das es gibt – ist ihm sein Gott der Partner.“
Der Begründer der Logotherapie läßt in seinem wissenschaftlichen Werk bewußt offen, ob ihm selbst „sein Gott der Partner“ ist. Seine Betonung des Leistungsgedanken impliziert die Frage, ob sich Frankl einen göttlichen Partner als bedingunglos Liebenden und Geborgenheit Schenkenden vorstellen konnte. In seinen Fachbüchern erscheint der Logos – selbst dort, wo er als Grenzbegriff, als ‚Über-Sinn‘ verstanden wird – letzten Endes nur denkbar als „schöpferisch“.
Damit zurück zum Ausgangspunkt. „Der Mensch will nicht glücklich sein“, sagt Frankl. Was will er denn?
Frankls Antwort lautet: „Was der Mensch in Wirklichkeit will ist einen Grund zum Glücklich-Sein … Mit anderen Worten, Glück muß er-folgen und kann nicht er-zielt werden.“
Liest man lediglich Frankls wissenschaftliches Werk, so ergibt sich Glücklich-Sein als Folge von Selbst-Transzendenz und Selbst-Distanzierung. Daß Frankl persönlich eine Glückserfahrung jenseits von Selbst-Transzendierung und Selbst-Distanzierung gekannt hat, bezeugt die abschließende Passage aus seinen Lebenserinnerungen: „Ich muß fünf Jahr alt gewesen sein, als ich – und ich halte diese Kindheitserinnerung für paradigmatisch – an einem sonnigen Morgen in der Sommerfrische Hainfeld erwachte. Während ich die Augen noch geschlossen hielt, wurde ich von dem unsäglich beglückenden und beseligenden Gefühl durchflutet, geborgen, bewacht und behütet zu sein. Als ich die Augen öffnete, stand mein Vater lächelnd über mich gebeugt.“
Monika Tempel ist Ärztin und Logotherapeutin. Sie lebt und arbeitet in Regensburg.