(Beirut) Die verworrene Situation im Nahen Osten wird noch verworrener. Zusammen mit Riad, Ankara und Doha will Washington nun die Muslimbruderschaft reanimieren und gegen den Islamischen Staat (IS) unterstützen. Damit dürfte das Ende des orientalischen Christentums besiegelt sein. Kein Wunder, daß die Christen des Nahen Ostens für die politisch-militärischen Strategen des Westens bei ihren Planungen keine Rolle spielen. Man hat sie längst aufgegeben für ein „höheres“ Ziel: die Sicherheit Israels. Eine Analyse von Fady Noun.
Der neue Obama-Aktionismus belegt vor allem, daß die Verworrenheit im Nahen Osten in nicht geringem Ausmaß von außen importiert ist, so Noun in einem Aufsatz für Asianews, die Nachrichtenagentur der katholischen Auslandsmission. Fady Noun, Jahrgang 1946, ist ein maronitischer Christ aus dem Libanon und gehört zu den bekanntesten französischsprachigen Journalisten und Nahost-Experten der Levante.
Thronbesteigung von König Salman führte zur Entmachtung von Geheimdienstchef Bandar ibn Sultan
Saudi-Arabien, die Türkei und Katar sind derzeit in der islamischen Welt die engsten Verbündeten der USA. Mit der Thronbesteigung von König Salman in Saudi-Arabien hat sich die Außenpolitik des erdölreichen radikalislamischen Königreichs geändert. Die Zeit des einst mächtigen Geheimdienstchefs Bandar ibn Sultan wurde beendet und die Achse mit Washington noch verstärkt. Das neue Projekt des Viererbündnisses lautet, die radikalislamische Muslimbruderschaft als wichtige Kraft in der arabisch-sunnitischen Welt wiederzubeleben. Jene Muslimbruderschaft, deren Zentrum Ägypten ist, wo sie zuerst demokratisch gewählt die Macht übernahm und dann auf Geheiß Washingtons durch einen Militärputsch gestürzt wurde.
Die USA wollen nun, so Fady Noun, den Islamischen Staat (IS) mit Hilfe anderer radikalislamischer Kräfte besiegen. Die Dauerkonflikte in den Staaten des Nahen Ostens, die nicht mit den USA verbündet sind, seien Teil dieser Strategie, um Israel zu schützen, so der maronitische Journalist.
Mit der Machtübernahme von König Salman ist es in Riad zu einer regelrechten Palastrevolte gekommen. Kernpunkte sind die Entmachtung von Prinz Bandar ibn Sultan, der bisher den Geheimdienst des wahabitischen Königreichs leitete und über Jahrzehnte maßgeblich die Außenpolitik des Landes mitbestimmt hatte. Zum anderen die Wiederbelebung der Muslimbruderschaft.
Wiederbelebung der Muslimbruderschaft von Washington wärmstens empfohlen
Letztere Entscheidung, so Fady Noun, sei von Washington wärmstens empfohlen worden. Gleichzeitig empfing das US-Außenministerium eine Delegation führender Muslimbrüder in Washington. Ihnen gegenüber wurde erklärt, daß die Muslimbruderschaft für die USA „weder eine Terrororganisation ist noch als gewalttätige Gruppe betrachtet“ werde. Mit einem solchen Persilschein ausgestattet, kann die nach dem Militärputsch in Ägypten in den Untergrund verbannte Muslimbruderschaft wieder aufatmen. Erst vor kurzem empfing US-Präsident Barack Obama den Emir von Katar, der der Muslimbruderschaft sehr nahesteht.
Die 180-Grad-Wendung der saudischen und der US-Außenpolitik hat damit zu tun, daß die Muslimbrüder für den Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) eingesetzt werden sollen und zwar im Irak, in Syrien, in Libyen, im Jemen und sogar in Ägypten.
Vorgestern gefördert, gestern gestürzt und verfolgt, heute wieder hofiert. Die Zeiten ändern sich in Windeseile. Die Operation ist nicht ungefährlich. Immerhin riskiert der neue ägyptische Machthaber, General Abdel Fatah al-Sisi, eine Schwächung seiner Position. Sein Militärputsch war mit den USA abgesprochen. Nun soll er gegen seine größten Feinde, die er unerbittlich verfolgt, nachsichtig sein und damit seine Regierung destabilisieren.
Von Staatsfeinden Nr. 1 und dem Scheitern einer Strategie
Unter dem verstorbenen saudischen König Abdallah förderte Prinz Bandar ibn Sultan zur Stützung der wahabitischen Herrschaft und im treuen Bündnis mit den USA in zahlreichen Staaten radikalislamische Organisationen wahabitischer Richtung, besonders im Irak und in Syrien. Damit sollten die Schiiten in der Bevölkerung der sunnitischen Emirate zurückgedrängt und der Einfluß des Iran und Rußlands in der Region eingedämmt werden. Zu den von Saudi-Arabien geförderten Gruppen gehörte auch Al-Qaida und in jüngster Zeit vor allem der Islamische Staat (IS) und dessen Projekt, das Kalifat neu zu errichten.
Das klingt paradox, gilt Al-Qaida seit 2001 doch offiziell als Staatsfeind Nummer Eins der USA. Die Förderung eines Feindes durch einen verbündeten Staat wäre ein unfreundlicher Akt. Eigentlich Grund genug, Saudi-Arabien in die „Achse des Bösen“ aufzunehmen, eine seit der Zwischenkriegszeit in den USA beliebte außenpolitische Diktion, Gegnern jede moralische Integrität abzusprechen. Aus diesem Grund gehen unabhängige Beobachter seit langem davon aus, daß die Al-Qaida-Förderung in Teilen der islamischen Welt mit Zustimmung der US-Regierung erfolgt, um die nicht mit den USA verbündeten Staaten zu destabilisieren, die islamische Welt insgesamt zu schwächen, nicht durch einen offenen Krieg, sondern durch Förderung von innerislamischen Konflikten. Das geschehe vordringlich zum Schutz von Israel.
Wahabismus-Exporteur ein US-Verbünderter mit anti-amerikanischem Haß
Prinz Bandar ibn Sultan war selbst lange Jahre, von 1983–2005 saudischer Botschafter in den USA, wo er enge Beziehungen mit der politischen und militärisch-industriellen Führungsklasse des Landes knüpfte. Gleichzeitig wird dem Prinzen nachgesagt, persönlich starke Vorbehalte gegen das demokratische System der USA zu hegen. Manche Beobachter sprechen von offenem antiwestlichem Haß. Ein Haß, den er uneingeschränkt mit den radikalislamischen Gruppen förderte, die er finanzierte und mit Waffen belieferte. Waffen, die aus amerikanischer Produktion stammen. Der innere Anti-Amerikanismus von Bandar ibn Sultan und dem Clan Al-Faisal und die Zusammenarbeit der saudischen Eliten mit den westlichen Eliten wäre ein eigenes Thema für sich. 2005 machte ihn König Abdallah zum Vorsitzenden des Nationalen Sicherheitsrats von Saudi-Arabien.
Zweiter „Frühling“ für die Muslimbrüder?
Da die Muslimbruderschaft im Zuge des „Arabischen Frühlings“ zur Destabilisierung des Nahen Ostens von den USA gefördert wurde und nach der Machtübernahme in Ägypten auf Saudi-Arabien auszugreifen begann, klingelten in Riad die Alarmglocken, die „demokratische Revolution“ könne auch auf den Wahabitenstaat übergreifen. Um eine Machtübernahme der Muslimbrüder im Jemen zu verhindern, was Saudi-Arabien von zwei Seiten in die Zange genommen hätte, förderte Bandar ibn Sultan sogar die wahabitischen Erzfeinde, die Schiiten. Die pro-iranischen schiitischen Huthi wurden gegen den starken jemenitischen Zweig der Muslimbruderschaft, Al-Islah in Stellung gebracht.
Seit dem 25. Januar hat der neue saudische König Salman aus dem Clan der Soudeyri eine radikale Wende in der Außenpolitik eingeleitet. US-Präsident Obama reiste persönlich nach Riad, um an der Thronbesteigung Salmans teilzunehmen. Mit Obama kam ein riesiger Troß von hohen Regierungsfunktionären, Geheimdienstvertretern und Experten.
Kurzfristige und langfristige Planung
Die „neue“ gemeinsame amerikanisch-saudische Strategie lautet: die unterdrückte Muslimbruderschaft unter der Schirmherrschaft von Saudi-Arabien, Katar und der Türkei wiederzubeleben und als einflußreiche Macht in der arabischen Welt aufzubauen.
Kurzfristig will Obama damit den Islamischen Staat (IS) zerschlagen, der neuerdings offiziell als Staatsfeind Nummer Eins der USA bezeichnet wird. Die unter US-Führung gebildete Anti-IS-Koalition zeigt bisher weniger Entschlossenheit, den „Kalifen“ zu bekämpfen, als vielmehr unter anderem Titel Staatspräsident Assad in Syrien stürzen zu wollen. Wenn in Syrien Erfolge gegen den IS erzielt werden, dann von der syrischen Armee, aber nicht von der westlich-arabischen Koalition.
Im Irak scheinen es die USA ernster zu meinen. Dort können sie im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) auf die Kurden zählen, die massiv mit Waffen beliefert werden. Und sie können auf die irakischen Schiiten zählen, die wiederum ohne den Iran nicht denkbar sind, weshalb Washington in jüngster Zeit zum Iran stiller geworden ist und das Säbelrasseln, das bis vor kurzem bis zur Kriegsrhetorik getrieben wurde, zurückgestellt hat. Mit dem Iran hängt ebenso die Hisbollah im Libanon zusammen, die bereits an der Seite Assads in Syrien gegen den Islamischen Staat (IS) kämpft und den Christendörfern zu Hilfe kam.
General Al-Sisi soll sich mit Muslimbrüdern aussöhnen
Im Irak bereiten Obama und seine Verbündeten sorgfältig die Rückeroberung von Mosul vor, dem großen sunnitischen Zentrum in der Ebene von Ninive. Eine Beteiligung der Muslimbrüder und der sunnitischen Stämme des Iraks ist für ein Gelingen des Unternehmens unerläßlich.
Im Jemen nimmt Al-Qaida, verschanzt im Süden und Osten, gegen die schiitischen Huthi für sich in Anspruch, den „sunnitischen Widerstand“ zu verkörpern. Die Amerikaner wollen daher Al-Islah wiederbeleben, um den 55 Prozent jemenitischen Sunniten eine Alternative zu bieten.
In Ägypten hofft Obama Präsident al-Sisi und die Muslimbrüder trotz der Toten und der Todesurteile irgendwie zu versöhnen, um den Vormarsch der wahabitischen Dschihadisten zu stoppen, die in jüngster Zeit ihre Angriffe und Attentate intensiviert haben, vor allem auf dem Sinai und in den großen Städten. Die Christen Ägyptens, seit alters Bürger zweiter Klasse, bekamen in der kurzen Zeit der Herrschaft der Muslimbrüder zu spüren, was es heißt, wenn Islamisten die macht übernehmen.
Auch in Libyen lautet die Rechnung: Annäherung von Muslimbrüdern und der von General Haftar (CIA) geführten Allianz, um die Islamisten von Daesh und Ansar al-Sharia einzudämmen, die sowohl Richtung Sahel und Richtung Maghreb drängen.
Obama sieht Muslimbruderschaft als Trumpf im Kampf gegen Islamischen Staat
In den Augen der Regierung Obama stellt momentan die Muslimbruderschaft der Trumpf dar, der gegen den Islamischen Staat (IS) ausgespielt werden soll. Die Formel, mit der die neue Allianz, so sie zustande kommt, der Öffentlichkeit präsentiert wird, ist leicht vorhersehbar. Die über Nacht wieder „moderaten“ Muslimbrüder kämpfen als „pro-westliche“ Milizen im Namen einer „demokratischen Allianz“ gegen die „Achse des Bösen“. Die Rollen scheinen im Nahen Osten fast beliebig austauschbar. Gestern so, heute so und morgen wieder anders.
Die Rechnung Washingtons: Zu einer Zeit, in der Millionen sunnitische Araber Bereitschaft zeigen, den radikalen Tönen des Wahabismus zu folgen, könne nur eine andere Islamistengruppe die Sammlung aller Radikalen unter einer Fahne verhindern. Divide et impera.
Langfristig soll Landkarte des Nahen Ostens neu gezeichnet werden
Daß das Zentrum des Wahabismus, Saudi-Arabien, der treueste arabische Verbündete der USA ist, läßt die ganze Szenerie geradezu gespenstisch erscheinen. Vor allem bleibt diese Tatsache offiziell unausgesprochen.
Langfristig wollen die USA, nimmt man zahlreiche Elemente zusammen, die gesamte Landkarte des Nahen Ostens neu zeichnen, indem sie das Entstehen neuer Staaten fördern, zerbrechlicher, innerlich schwacher Bundesstaaten, indem sie unterschiedliche ethnische und religiöse Gemeinschaften unter einer westlichen gelenkten Verfassung zusammenfügen, die sich gegenseitig neutralisieren sollen. Das eigentliche Ziel der USA wurde bereits genannt: Die Sicherheit Israels garantieren. Die arabische Welt, wie auch immer sie ethnisch, religiös, staatlich oder politisch beschaffen sein mag, soll destabilisiert, fraktioniert, aufgesplittert und geschwächt werden, am besten durch Regierungen, die in irgendeiner Weise von den USA abhängig sind, so Fady Noun, der seit über 50 Jahren die Ereignisse im Nahen Osten aus nächster Nähe beobachtet, analysiert und darüber berichtet. Rund um Israel sollen westlich verbündete Staaten oder eine in die Steinzeit zurückgebombte Glacis geschaffen werden. Die Christen müssen selbst sehen, wie sie zurechtkommen. Eine Zukunft scheint in weiten Teilen des Nahen Ostens für sie nicht mehr vorgesehen zu sein.
Muslimbrüder in einigen Staaten bald an der Macht? Und dann?
Sollten sich die Muslimbrüder als „glaubwürdige“ Verbündete der neuen US-Strategie erweisen, könnten sie in mehreren Staaten maßgeblichen politischen Einfluß zurückgewinnen.
Wird die neue Rechnung der US-Regierung aufgehen. Zweifel sind angebracht, wenn damit eine Befriedung des Nahen Ostens gemeint sein sollte. Aufgehen wird sie, wenn damit eine dauerhafte Destabilisierung des Nahen Ostens gemeint ist. Ein hoher Preis für die Sicherheit Israels. Kann das zudem die Antwort auf den Islam sein? Oder auf berechtigte Anliegen der arabischen Welt, ob Moslems oder Christen, will man ihnen nicht jede Existenzberechtigung absprechen? Wird die Spirale einer totalen Konfrontation und eines unüberbrückbaren Hasses nicht immer weitergetrieben? Kann eine Rechnung aufgehen, wo der Teufel mit Beelzebub ausgetrieben werden soll? Oder beginnt nur ein weiteres „typisches“ Kapitel der US-Außenpolitik, wo B aufgerüstet wird, um für die USA gegen Feind A zu kämpfen, morgen dann der aufgerüstete B zum Feind erklärt wird, und C aufgerüstet wird, um für die USA B zu bekämpfen. Ein zynisches Spiel ohne Ende? Jedenfalls ohne Happy-End. Zudem bleibt die beklemmende Frage, ob es sich um eine längerfristig angelegte Strategie der USA handelt oder nur um ein In den Tag hinein leben mit Ad-hoc-Strategien. Die nahe Zukunft wird Antwort geben und sie könnte nicht angenehm sein, für die Christen des Nahen Ostens jedenfalls bestimmt nicht, so Fady Noun auf Asianews.
Text: Asianews/Giuseppe Nardi
Bild: Asianews/Wikicommons/Ora Pro Siria