Übernimmt Rußland Schutzmachtrolle für Christen im Nahen Osten? – Frankreichs Rolle bröckelt, Christen sind verzweifelt


Christen des Nahen Ostens hoffen auf Rußland als Schutzmacht(Damaskus/​Moskau) Die Ver­tei­di­gung der Chri­sten des Nahen Ostens ist zu einem stra­te­gi­schen Ele­ment in Ruß­lands Außen­po­li­tik gewor­den. Staats­prä­si­dent Putin befin­det sich dabei in völ­li­gem Ein­klang mit dem Mos­kau­er Patri­ar­chat. Aus­gangs­punkt ist die Fehl­ein­schät­zung des Westens zum „Ara­bi­schen Früh­ling“, das Bröckeln der tra­di­tio­nel­len Schutz­macht­funk­ti­on Frank­reichs und die zur Gewiß­heit gewor­de­ne Befürch­tung der Chri­sten im Nahen Osten, vom Westen im Stich gelas­sen zu wer­den. So blicken nicht nur Syri­ens Chri­sten neu­er­dings ver­stärkt Rich­tung Mos­kau und hof­fen, dort eine neue Schutz­macht zu finden.

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Die Quel­len sind offi­zi­ell. Und sie müs­sen in Ruß­land kei­ne Demen­ti befürch­ten, wie dies für west­li­che Staats­kanz­lei­en inzwi­schen ein Teil des täg­li­chen poli­ti­schen und diplo­ma­ti­schen Geschäfts gewor­den ist. Der Kreml ist ernst­haft bereit, zu prü­fen, den Antrag von 50.000 syri­schen Chri­sten auf Erwerb der rus­si­schen Staats­bür­ger­schaft zu prü­fen. Die Chri­sten, die Ruß­land dar­um gebe­ten haben, sie unter den Schutz des rus­si­schen Adlers zu stel­len, leben in der christ­li­chen Regi­on ent­lang der Gren­ze zum Liba­non nörd­lich von Damas­kus. Ver­gan­ge­ne Woche hat­ten sie dem rus­si­schen Außen­mi­ni­ste­ri­um ihren Antrag um kol­lek­ti­ve Ver­lei­hung der rus­si­schen Staats­bür­ger­schaft zukom­men las­sen (sie­he eige­nen Bericht). Die Spre­cher von Staats­prä­si­dent Wla­di­mir Putin und des Außen­mi­ni­ste­ri­ums gaben in den ver­gan­ge­nen Tagen über­ein­stim­mend bekannt, daß der Antrag der Chri­sten von den rus­si­schen Behör­den auf höch­ster Ebe­ne geprüft wird.

50.000 syrische Christen stellten Antrag auf russische Staatsbürgerschaft

Als cap­t­atio bene­vo­len­tiae spar­ten die Chri­sten nicht mit Lob für Ruß­land und Prä­si­dent Putin. Ange­sichts ihres unge­wöhn­li­chen Antrags und der lebens­be­droh­li­chen Lage, in der sie sich befin­den, wenig ver­wun­der­lich. Der Angriff und die Zer­stö­run­gen und Kir­chen­schän­dun­gen durch Isla­mi­sten in Maa­lu­la stecken den Chri­sten der Regi­on in den Kno­chen. Seit Mon­tag trei­ben die Dschi­ha­di­sten in der christ­li­chen Stadt Sadad ihr Unwe­sen. Die Chri­sten der ande­ren Orte rech­nen sich aus, daß es nur mehr eine Fra­ge der Zeit sein dürf­te, bis die Isla­mi­sten-Mili­zen mit den Fah­nen des Dschi­had vor ihren Orten auftauchen.

Die wohl­wol­len­de Reak­ti­on in Mos­kau bestä­tigt, was seit Aus­bruch des Syri­en-Kon­flik­tes beob­ach­tet wer­den konn­te. Der Kreml schaut Rich­tung Nahen Osten und er ist nicht bereit, die­se Regi­on den USA und den Isla­mi­sten zu über­las­sen. Die Chri­sten der Gegend spie­len daher für den Kreml und das Mos­kau­er Patri­ar­chat eine her­aus­ra­gen­de Rol­le. Da die USA und der Westen ins­ge­samt für die Chri­sten des Nahen Ostens nur huma­ni­tä­re Hilfs­pro­jek­te zur Ver­fü­gung stel­len, wenn sie von den Isla­mi­sten aus ihrer Hei­mat ver­trie­ben sind, sie aber poli­tisch opfern, suchen die Chri­sten Rücken­deckung beim christ­li­chen Ruß­land. Und dort scheint man bereit­wil­li­ger zuzuhören.

Moskauer Patriarchat handelt auf kirchlicher Ebene, der Kreml auf diplomatischer

Das Patri­ar­chat der Rus­sisch-ortho­do­xen Kir­che bezeich­net den Antrag der Chri­sten als Signal für die „Auto­ri­tät und den guten Ruf, den Ruß­land in der Regi­on genießt“. Erz­prie­ster Niko­lai Bala­schow, der stell­ver­tre­ten­de „Außen­mi­ni­ster“ des Mos­kau­er Patri­ar­chats sag­te: Die Chri­sten des Nahen Ostens „wis­sen seit Jahr­hun­der­ten, daß kein ande­res Land sich wirk­lich ihrer Inter­es­sen bes­ser anneh­men wür­de als Rußland“.

Es darf daher nicht als Zufall ange­se­hen wer­den, wenn erst gera­de am 14. Okto­ber die Geist­li­che Aka­de­mie der rus­si­schen Kir­che in Mos­kau auf den Anhö­hen des Mari­en­hei­lig­tums von Said­na­ya einen Skulp­tu­ren­kom­plex mit Chri­stus im Mit­tel­punkt errich­ten ließ und ein­weih­te. Said­na­ya ist eines der christ­li­chen Zen­tren Syri­ens. Es liegt in der Gegend der Chri­sten, die nun den Antrag auf Erwerb der rus­si­schen Staats­bür­ger­schaft gestellt haben. Said­na­ya ist einer der bedeu­tend­sten Mari­en­wall­fahrts­or­te für die ara­bi­schen Chri­sten des gesam­ten Nahen Ostens. Die Rus­sisch-ortho­do­xe Kir­che woll­te damit ein „Zei­chen des Frie­dens inmit­ten eines vom Krieg zer­fres­se­nen Lan­des set­zen“, so Erz­prie­ster Bala­schow. Eine Geste auf kirch­li­cher und geist­li­cher Ebe­ne, die ganz dem poli­ti­schen und diplo­ma­ti­schen Akti­vis­mus der rus­si­schen Regie­rung zu ent­spre­chen scheint. Ruß­land will den Chri­sten Mut machen und zeigt demon­stra­ti­ve Anwesenheit.

Syriens Christen wollen nicht Teil westlicher Flüchtlingskontingente werden, sondern ihre Heimat verteidigen

Wäh­rend der Westen sich in theo­re­ti­schen Null­dis­kus­sio­nen ergeht und über Flücht­lings­kon­tin­gen­te aus Syri­en debat­tiert und dar­über, ob man schon Chri­sten „bevor­zu­gen“ dür­fe oder nicht, denkt Ruß­land nicht an die Auf­nah­me der Chri­sten. Und die Chri­sten, die sich an Ruß­land gewandt haben, wol­len auch gar nicht ihr Land ver­las­sen. Sie wol­len nicht Num­mern in irgend­wel­chen west­li­chen Flücht­lings­kon­tin­gen­ten wer­den, son­dern ihre Hei­mat ver­tei­di­gen, in der sie als Chri­sten seit 2000 Jah­ren aus­har­ren.  Sie wol­len sich unter Ruß­lands Schutz stel­len und hof­fen auf ein noch stär­ke­res Enga­ge­ment Mos­kaus im Nahen Osten.

Die Ver­lei­hung der Staats­bür­ger­schaft an die Chri­sten Syri­ens wür­de Mos­kau aller­dings tat­säch­lich zum Ein­grei­fen zwin­gen, falls Isla­mi­sten-Ver­bän­de die Chri­sten angrei­fen wür­den. Die Fra­ge ist als Abschreckungs­maß­nah­me gedacht, kann aber bit­te­rer Ernst wer­den, falls sich die Dschi­ha­di­sten in ihrem Todes­wahn von einer rus­si­schen Pro­tek­to­rats­er­klä­rung nicht abschrecken las­sen sollten.

Vorgezogene Botschaft von Patriarch Kirill an Obama zum 11. September

Um die Sor­ge um das Schick­sal der Chri­sten in Syri­en und im gan­zen Nahen Osten zu bezeu­gen, sand­te der Mos­kau­er Patri­arch Kirill US-Prä­si­dent Barack Oba­ma bereits Ende August eine Bot­schaft zum 12. Jah­res­tag des Al-Qai­da-Angriffs vom 11. Sep­tem­ber auf die USA. Dar­in bat er den ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­den­ten, den Stim­men der Chri­sten in Syri­en und den Stim­men der Reli­gi­ons­füh­rer Gehör zu schen­ken, die sich „ein­hel­lig“ einer für jene Tage geplan­ten Mili­tär­in­ter­ven­ti­on wie­der­setz­ten. Patri­arch Kirill warn­te vor einer „dro­hen­den Ver­nich­tung der Chri­sten und deren Mas­sen­flucht“, die auf den Chri­sten des gan­zen Nahen Ostens laste.

Das Mos­kau­er Patri­ar­chat bemüht sich um enge Bin­dun­gen zu den geschun­de­nen Kir­chen des Ori­ents. So wur­den deren Ver­tre­ter auf Kosten Mos­kaus zu den 1025-Jahr­fei­ern der Tau­fe der Rus ein­ge­la­den. Patri­arch Kirill war auch der letz­te christ­li­che Kir­chen­ver­tre­ter, der Syri­ens Staats­prä­si­dent Baschar al-Assad 2011 in Damas­kus aufsuchte.

Tritt Rußland an die Stelle der traditionellen christlichen Schutzmacht Frankreich?

Ruß­land kann in der Gegend an eine zari­sti­sche Tra­di­ti­on anknüp­fen. Vor allem scheint Ruß­land die tra­di­tio­nel­le Schutz­macht der ori­en­ta­li­schen Chri­sten ablö­sen zu wol­len: Frank­reich. Frank­reichs Schutz­macht­rol­le, beson­ders der star­ken mit Rom unier­ten katho­li­schen Ost­kir­chen bröckelt seit lan­gem. Grund sind poli­ti­sche Fehl­ent­schei­dun­gen im Nahen Osten, aber auch ein schwin­den­des rea­les Inter­es­se für die Chri­sten in der Levante.

Dem ent­spre­chen umge­kehrt eine zuneh­men­de Ent­frem­dung und auch ein Miß­trau­en der ori­en­ta­li­schen Kir­chen gegen­über Frank­reich und sei­ner Außen­po­li­tik. Die Chri­sten regi­strier­ten mit Miß­mut, mit wel­cher augen­schein­li­chen Nai­vi­tät Frank­reich sofort den „Ara­bi­schen Früh­ling“ unter­stütz­te und die War­nun­gen vor den dahin­ter stecken­den Gefah­ren über­hör­te, weil sie nicht in das ideo­lo­gisch gewünsch­te Bild paß­ten. Die augen­schein­lich­ste Zäsur war, als im Sep­tem­ber 2011 der maro­ni­ti­sche Patri­arch Bécha­ra Pierre Kar­di­nal Raï bei sei­nem Besuch in Paris von Staats­prä­si­dent Sar­ko­zy gemaß­re­gelt wur­de, weil er nicht den­sel­ben Enthu­si­as­mus der west­li­chen Staats­kanz­lei­en über den „Ara­bi­schen Früh­ling“ teil­te. Sar­ko­zy erklär­te dem Patri­ar­chen vol­ler Gewiß­heit, daß die­se „Demo­kra­tie­be­we­gung“ bald auch Syri­ens Herr­scher­fa­mi­lie Assad besei­tigt haben wer­de und dann ein blü­hen­des Zeit­al­ter der Demo­kra­tie anbre­chen werde.

Die­se Fehl­ein­schät­zung, die man im Westen zum Teil selbst heu­te nicht bereit ist ein­zu­se­hen und anzu­er­ken­nen, führt die Chri­sten der Gegend nach Mos­kau, wo sie, die Ver­zwei­fel­ten, ehr­li­che­re Auf­nah­me erhof­fen als im Westen.

Text: Giu­sep­pe Nardi
Bild: Asianews

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